Nächsten Sommer
Wendung genommen hat als das von Marc oder Zoe oder all den anderen. Nie eine richtige Freundin, |159| kein Abi, kein Studium, kein richtiger Beruf. Und die einzige Begabung, die ich besitze, ist nicht nur unnütz, sondern zudem einmalig unsexy: Mathematik. Ich habe Frauen gesehen, die nach fünf Minuten vor Marc und seiner Gitarre nicht mehr ihren Namen gewusst hätten. Die Quadratwurzel aus, sagen wir, 101124 hat noch niemand seinen Namen vergessen lassen. 318 übrigens. Wie geil ist
das
denn? Ich klemme den Zettel unter den Riemen von Liliths Rucksack und stelle ihn auf der Steinstufe zum
Louis
ab. Dann zuckeln wir aus dem Dorf.
Der Ortsausgang ist bereits in Sicht und gibt den Blick über das Hochplateau frei, als auf der Windschutzscheibe eine Rotweinflasche explodiert. Marc macht eine Vollbremsung. Die Scheibe ist in einem Stück geblieben, hat aber eine Delle und besteht jetzt aus einem Mosaik fingernagelgroßer Glassteinchen. Entlang der Risse bilden sich rote Rinnsale. Eine sichelförmige Scherbe wippt auf dem Asphalt hin und her. Sonst bewegt sich nichts. Am Straßenrand liegen die Reste eines Autoscheinwerfers. Hier ist uns letzte Nacht die nackte Frau vor den Bus gelaufen, und Maurice hat seinen Wagen gegen die Wand gesetzt. Marc und ich sehen uns an. Eine Strafe Gottes? Rotwein, der vom Himmel fällt?
Kaum fährt er an, kracht eine zweite Flasche auf den Bus. Diesmal trifft sie das Dach, und der Wein läuft an den Seitenscheiben herab.
»Fuck!«, ruft Zoe, der dieser Ort inzwischen ebenso viel Furcht einjagt wie Bernhard.
Marc wagt einen Blick in den wolkenlosen Himmel, der durch die Scheibe wie ein blaues Puzzle in 1000 Teilen aussieht, und sagt beiläufig: »Ich glaub, die mögen uns nicht.« Jetzt erst fällt ihm auf, das von oben kein Licht mehr in den Bus dringt. »Was ist denn mit dem Schiebedach passiert?«
Ich greife in die Ablage und halte die abgebrochene Kurbel hoch.
»Und da hast du’s mit Gaffa zugeklebt?«, fragt Marc.
»Es hat geregnet?«
»Echt?«
»Ein Gewitter.«
|160| »Letzte Nacht?«
»Ziemlich heftig.«
»Hm.«
Auf der Rückbank tauschen Zoe und Bernhard ungläubige Blicke aus.
»Wäre es euch vielleicht möglich, diese Unterhaltung später fortzusetzen?«, fragt Zoe.
Bernhard drängt: »Lasst uns endlich abhauen, verdammt noch mal!«
Marc blickt skeptisch aus dem Fenster. »Was meinst du?«, fragt er mich.
Ich ziehe die Schultern hoch. Mathematik bringt uns hier nicht weiter.
Langsam lässt Marc die Kupplung kommen, Zoe und Bernhard ziehen die Köpfe ein. Alle warten auf den nächsten Einschlag. Doch statt von einer Flasche getroffen zu werden, läuft uns eine Frau vor den Bus – zum zweiten Mal am selben Tag und am selben Ort. Marc bremst, kneift die Augen zusammen und wendet den Kopf ab. Die Frau schreit auf und weicht zurück.
Marc öffnet erst ein Auge, dann das andere. Offenbar ist sie unverletzt. »Hossa«, sagt er.
Es ist nicht die Frau von letzter Nacht, und nackt ist sie auch nicht. Trotzdem kommt sie uns bekannt vor. Sehr bekannt.
»Das glaub ich nicht«, sagt Zoe.
»Na wunderbar«, kommentiert Bernhard, »noch mehr Ärger.«
Auf Marcs Gesicht breitet sich ein entrücktes Lächeln aus. »Danke, Jesus.«
|161| 31
Jeanne hat die Nacht am Küchentisch verbracht. Irgendwann hat sie aufgehört zu fühlen, war nur noch Leere, ein Nichts mit einer Haut drumherum, unfähig, etwas zu tun, und sei es nur, den Arm zu heben oder auf den bequemeren Stuhl zu wechseln. Da, wo sie war, gab es keine Zukunft mehr und keine Vergangenheit. Als das Gewitter über das Dorf hinwegfegte und der Regen wütend auf den Sims prasselte, hätte sie das Fenster schließen sollen. Jetzt glänzt eine Pfütze auf den Steinfliesen. Später zeichnete sich der erste Berg gegen den Nachthimmel ab. Sie erwog, ins Bett zu gehen. Doch sie blieb sitzen.
Und so kommt es, dass, als im Morgengrauen Jürgens schwere Schritte auf den Stufen zu hören sind und sich der Schlüssel im Schloss dreht, die Weinflasche auf dem Tisch zu zwei Dritteln geleert, ansonsten aber alles so ist, wie Jürgen es zurückgelassen hat. Eigentlich weiß sie es in dem Moment, da Jürgen die Wohnung betritt: Sie wird gehen. Noch kann sie nichts tun, kann nicht aufstehen, sich nicht erklären, ihm nicht in die Augen blicken. Am Ende jedoch, sie sieht es vor sich, wird sie gegangen sein.
Jürgen lässt den Schlüsselbund auf den Tisch fallen und stellt sich in die Pfütze vor dem Fenster. In kurzem Abstand folgt
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