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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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da kannst du plötzlich reden.« Sein Stock verselbständigte sich und kreiste vor meinem Gesicht. »Ich verfluche dich!«
    Ich schloss die Augen. Mein Gesicht war tränenüberströmt, doch das spielte keine Rolle mehr. Gleich würde er mir den Kopf abreißen.
    »Das reicht.«
    Ich öffnete die Augen. Onkel Hugo war ebenfalls aufgestanden. Er und Vater sahen einander an.
    »Er hat es nicht böse gemeint«, sagte er.
    Ich blickte zwischen den beiden hin und her. Vaters Wangen zuckten. Einen Augenblick lang geschah nichts, außer dass Vaters Kaumuskeln sich bewegten. Dann hob er seinen Gehstock, stieß ein Grunzen aus und hieb ein letztes Mal mit voller Wucht auf das |152| Spielbrett ein, das in zwei Teile zerbrach, die in entgegengesetzte Richtungen vom Tisch flogen. Anschließend richtete er sich auf, drehte sich auf dem Absatz um und hinkte aus dem Zimmer. Im Gegenlicht des Flures sah ich, wie sein Gehstock kleine Dellen in das Parkett bohrte. Onkel Hugo hatte mir das Leben gerettet. Bald darauf verschwand er.

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    |153| Dritter Tag
    Love is the answer, at least
    For most of the questions of my heart.
    Why are we here, and where do we go,
    And how come it’s so hard?
     
    (Jack Johnson)

|155| 30
    Bevor ich richtig wach bin, habe ich bereits den Geruch feuchten Grases in der Nase und den Geschmack wilden Rosmarins auf der Zunge. Fremde Vogelstimmen schwirren um den Bus. Zwischen Wachen und Träumen kehren Bilder der letzten Nacht zurück: die Verfolgungsjagd, die nackte Frau auf der Straße, die Wiese, die tausend Glühwürmchen und Zoes Stimme in der Dunkelheit. Die aufgehende Sonne wärmt mein Gesicht und färbt die Innenseite meiner Lider rosa.
    Die Augen noch geschlossen, denke ich an das, was vor uns liegt: Onkel Hugos Haus. Durch die Ereignisse der letzten Tage ist es in meiner Vorstellung größer und größer geworden. Als hänge alles davon ab, dass wir tatsächlich dort ankommen. Als würde dann alles gut werden.
     
    Einer der Gründe, weshalb die meisten Menschen sich, wenn sie ihm begegnen, nur schwer wieder von Zoes Blick lösen können, sind ihre Augen. Sie sind groß, von besonderer Form und leuchten wie Kupfer. Mandelaugen. Verschwenderisch große, verschwenderisch braune Mandelaugen. Wäre Zoes Gesicht ein Gemälde, würde man ihre Augen für eine Übertreibung halten. So aber muss man ihnen glauben.
    Die Augen, die mich durch das Seitenfenster betrachten, als ich meine öffne, sind ebenfalls groß und braun. Sehr groß und sehr braun. Größer noch als Zoes. Ich muss zurückweichen, um das dazugehörige Gesicht zu erkennen. Ja, es ist … ein Lama. Es hat den Kopf schief gelegt, sieht mich an und kaut.
    Jenseits des Elektrozauns erblicke ich ein Kamel, das durch ein Lavendelfeld stapft und sich in aller Ruhe die besten Blüten herauszupft. Im Hintergrund ist ein rundes Zelt zu sehen, orange und rot gestreift. Wahrscheinlich war es als Unterstand gedacht, jetzt aber liegt es quer im Lavendelfeld, als sei es in der Nacht |156| vom Himmel gefallen. Statt mich über das Kamel und das Zelt zu wundern, frage ich mich, wie beide auf die andere Seite des Zauns gekommen sind.
    Wir befinden uns in einem Olivenhain. Nach dem Regen der letzten Nacht drängeln sich die Blätter mit geschwellter Brust im Morgenlicht um die besten Sonnenplätze. Zwischen den Bäumen gibt es weitere Tiere zu entdecken: Zwergponys, einen unendlich traurig aussehenden Elefanten sowie ein Zebra, das ebenfalls entlaufen ist. Offenbar haben wir letzte Nacht Teile des Elektrozauns unter uns begraben, vielmehr: ihn hinter uns hergezogen. Eine Leine spannt sich vom Bus bis zurück auf den Weg. Und da kommt auch schon Gérard, dem der Olivenhain gehört. Eine dreizackige Mistgabel im Anschlag und einen ausladenden Bauch vor sich herschiebend, holpert er mit seinen Gummistiefeln durch das nasse Gras. Ein freundliches »Willkommen« geht anders.
    »Marc«, ich rüttle an seinem Knie, »wach mal auf.«
    Marcs Lippen schließen sich. Er versucht, trocken zu schlucken. Mit Aufwachen hat das nichts zu tun. Ich drehe den Zündschlüssel und lasse den Motor vorglühen. Gérard und uns trennen noch 30 Meter.
    »Aufwachen!«
    Marc schreckt auf wie ein Baby.
    Bevor er weiß, wo er ist, rufe ich: »Kupplung!« Ich starte den Motor und lege den ersten Gang ein. »Gas!«
    Mit durchdrehenden Reifen schlingern wir über die Wiese, während das Lama schwerfällig davongaloppiert und zwei Zwergponys eilig das Weite suchen. Gérard und seine gelben

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