Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
Vom Netzwerk:
Stiefel verfolgen uns im Schweinsgalopp, die Mistgabel wie einen Speer über dem Kopf. Die Elektroleine spannt sich, und eine nach der anderen springen die Befestigungsstangen aus dem Rasen. Eine verhakt sich in einem Olivenbaum, die Leine reißt, ich sehe, wie die Mistgabel auf uns zufliegt und eine Armeslänge hinter dem Bus ihre Zinken in den Rasen bohrt. Dann sind wir auf und davon.
    Zwei Minuten später erwartet uns ein Déjà-vu: Jesus an der Weggabelung, rechts oder links.
    »Auf keinen Fall durchs Dorf«, sagt Bernhard.
    |157| »Aber wir haben noch Liliths Rucksack hintendrin«, wendet Zoe ein.
    So stehen wir vor Jesus. Die Sonne steigt auf, der Motor tuckert, der Auspuff klappert. Rechts oder links.
    Ich habe letzte Nacht den Boden saubergemacht, an der Tür aber kleben noch Reste von Zoes Erbrochenem. »Mir ist immer noch schlecht«, sagt sie jetzt.
    »Ich hab dafür totale Kopfschmerzen«, sagt Bernhard.
    »Dein Glück möchte ich haben«, antwortet Marc. »Bei mir tut alles weh.«
    »Worauf warten wir eigentlich?«, fragt Zoe.
    »Ein Zeichen?«, schlägt Marc vor.
    Bernhard will auf keinen Fall noch einmal in dieses Dorf, wo auf einen geschossen wird, sobald man ein paar Buchstaben umsteckt. »Können wir den Rucksack nicht einfach
hier
abstellen?«
    »Und ihn Jesus überlassen?« Unter sichtbaren Schmerzen dreht sich Marc zu Bernhard um. Die Schmerzen haben allerdings nichts mit Jesus zu tun. Nach dem gestrigen Tag tut Marc tatsächlich alles weh. Jede Bewegung, jeder Gedanke muss physische Barrieren überwinden. »Der verschenkt ihn doch an den erstbesten Geisteskranken, der vorbeikommt. Sorry, aber deinem Jesus trau ich nicht weiter als bis zur nächsten Straßenecke.«
    Vorsichtig klappern wir die Dorfstraße entlang, vorbei am Hof mit dem alten Kino. Lilith ist nirgends zu sehen, doch ihr Film läuft noch:
    SUSI GOES A L A D IN
     
    Drei Kurven weiter erreichen wir den Marktplatz. Die Kirchturmuhr zeigt Viertel nach sechs. Das Dorf schläft noch. Die Sonne berührt soeben den Dachfirst des Rathauses. Im Schritttempo schleichen wir um den Bouleplatz und das Zirkuszelt, immer in der Erwartung, dass uns hinter der nächsten Ecke Maurice und sein Polizeiauto auflauern. Von Lilith keine Spur.
    Vor dem
Louis
hält Marc an. »Und jetzt?«
    »Erst mal den Bus ausmachen«, schlägt Zoe vor. »Bevor wir das ganze Dorf aufwecken.«
    »Und wenn er nachher nicht wieder anspringt?«, wendet Bernhard ein.
    |158| Marc dreht den Zündschlüssel, lässt den Motor austuckern und wiederholt seine Frage. »Und jetzt?«
    »Ich finde, wir sollten sie suchen«, sagt Zoe.
    Bernhard sieht sich um. »Ich finde, wir sollten fahren. Auf dem Dorfplatz, hat sie gesagt. Hier ist sie nicht, also nichts wie weg.« Marc und ich sehen uns an, denn öffnen wir die Türen und steigen aus.
    »War ja klar«, sagt Bernhard.
    Wir schwärmen aus, jeder in eine andere Richtung. Wenn die Kirchturmglocke »halb« schlägt, treffen wir uns wieder. Ich laufe den Hang hinunter, zur alten Waschstelle, deren Mauern in der Sonne glänzen und sich bereits wieder aufheizen. Ich kontrolliere jede Nische, doch außer einem Hund, zwei Katzen und einer alten Frau in einer geblümten Küchenschürze, die ihre Fensterläden aufstößt und sofort wieder schließt, als sie mich die Gasse entlangkommen sieht, begegnet mir niemand. Als die Kirchturmglocke ertönt, spritze ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht, nehme einen Schluck aus dem Brunnen und gehe zurück.
    Die anderen erwarten mich bereits. Keiner hat Lilith gefunden.
    »Lasst uns um Himmels willen abhauen«, flüstert Bernhard.
    Die Sonne kriecht aus den Gassen und züngelt auf den Dorfplatz. Da keiner von uns mit einer besseren Idee aufwarten kann, steigen wir schließlich ein.
    »Moment«, sage ich, als Marc den Motor anlässt.
    »Was denn jetzt noch?«, kommt es von Bernhard.
    Ich suche meine Unterlagen heraus und schreibe die Adresse von Hugos Haus auf einen Zettel. Ich möchte noch etwas ergänzen, damit Lilith sich nicht so einsam fühlt, wenn sie ihren Rucksack findet. Damit sie weiß, wo wir sind und dass wir auf sie warten. Es ist gut, wenn man weiß, dass jemand auf einen wartet. Der Stift schwebt über dem Papier.
    »Schreib ihr einfach, sie soll hinmachen«, schlägt Marc vor.
    Und als hätte ich seit heute Morgen kein eigenes Gehirn mehr, schreibe ich auf den Zettel:
Marc sagt, du sollst hinmachen – Felix.
    Momente wie diese sind es, in denen mir klar wird, warum mein Leben eine andere

Weitere Kostenlose Bücher