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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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niemand abnehmen. Auf Stützen hievte er sich jeden Morgen die Stufen zur Einfahrt hinunter. Dabei verfluchte er seine Krücken wie eine Charakterschwäche.
     
    Wie immer zu Weihnachten war es im Wohnzimmer sehr warm. Der neue Wollpulli juckte mich an den Armen und am Hals. Onkel Hugo sah traurig aus.
    »Hallo, mein Junge«, begrüßte er mich, und als er und Vater sich ins Arbeitszimmer zurückzogen, fragte er nicht, ob ich auch mitkommen wolle. Dabei konnte mich der Computer inzwischen nur noch auf Stufe 7 und 8 schlagen, und manchmal auf 6, aber nur, wenn ich müde war.
    Oma war noch da, aber Opa nicht mehr. Nicht einmal mehr körperlich. Sebastian war nach oben gegangen und probierte sein neues Videospiel aus. Als Oma das zweite Plätzchen abklopfte und ein Stück davon in ihrem Mund verschwand, fing sie plötzlich an zu weinen.
    »Er war alles, was ich hatte«, sagte sie.
    Mutter stand auf, ging zum Baum und drückte mit Daumen und Zeigefinger die Kerzen aus. Vierundzwanzigmal nahm sie die Flamme zwischen ihre Finger und erstickte sie. Dann drehte sie sich zu Oma um, die immer noch schluchzend auf dem Sofa saß.
    »Hör endlich auf«, sagte sie, ihre Augen wie die einer Blinden. »Er hat dich fünfzig Jahre lang schlecht behandelt.«
    Oma stockte der Atem. Die Hand mit dem Plätzchen blieb auf |150| halber Strecke in der Luft hängen. »Er war alles, was ich hatte«, wiederholte sie.
    Mutter wischte sich den Ruß am Rock ab. Die Kuppe des Zeigefingers war rot, die Haut aufgeplatzt. Sie schloss die Augen und sagte: »Du kannst ruhig zu Papa und Hugo ins Arbeitszimmer gehen, Felix. Ich bin sicher, das ist in Ordnung.«
     
    Onkel Hugo war nicht bei der Sache. Sein Blick ging durch die Figuren hindurch. Vater hingegen verfolgte das Spiel umso verbissener. Er hatte seine Krücken nicht mehr, musste aber noch einen Gehstock benutzen, dessen Knauf er jetzt umklammert hielt.
    Ich rekonstruierte das Spiel. Das machte Spaß. Es war wie in der Schule, wenn Herr Böttcher einen Film rückwärts durch den Projektor laufen ließ. Es stand auf der Kippe, Vater war sogar leicht im Vorteil. Er lauerte in seinem Sessel wie eine Katze vor dem Sprung.
    »Nicht das Pferd!«, rief ich plötzlich.
    Onkel Hugo schaute vom Brett auf. »Was sagst du?«
    »Nicht das Pferd. Wenn du das Pferd wegziehst, dann reißt Papa deinem König den Kopf ab.«
    Vater hielt die Luft an, ganz lange. Sonst hörte man ihn immer schnaufen.
    »So, tut er das?« Zum ersten Mal schien Onkel Hugo die Figuren richtig wahrzunehmen. »Na, dann wollen wir mal sehen …« Er legte seine Hand unter das Kinn, konnte aber die Bedrohung nicht erkennen. »Tut mir leid«, sagte er schließlich, »aber ich glaube, du irrst dich.«
    Ich sah es vor mir. Ich wusste, wie die Figuren sich bewegen würden. Wenn Onkel Hugo den Springer von C6 nach B4 setzte, wäre er in fünf Zügen matt.
    »Wenn du das Pferd wegziehst, dann …« Ich konnte es nicht erklären. Selbst meine einzige Begabung konnte ich nicht erklären. Ich verstand nicht, wie mein Gehirn arbeitete, und konnte nicht sagen, weshalb ich es wusste. Ich sah es einfach. »Tu es nicht«, sagte ich resigniert.
    Onkel Hugos Pfeife war erloschen. Er zündete sie neu an, |151| wobei er die Flamme in den Pfeifenkopf zwang. »Wenn du meinst …«
    Vaters Nasenflügel fingen an zu beben. Die Fingerknöchel waren weiß, sein Stock wackelte hin und her.
    »Na, ich hab ja noch andere Figuren«, sagte Onkel Hugo. »Dann nehme ich eben … Mein Gott, du hast ja recht! Der Zug hätte mich ins Verderben gestürzt!«
    »Du un-mögliches Kind!«, rief Vater aus.
    Er riss seinen Gehstock in die Höhe, wo er für einen Augenblick wie ein Falke in der Luft hing, bevor er auf das Spielbrett krachte. Zwei-, dreimal hieb er darauf ein, die Figuren flogen quer durch den Raum. Das Zimmer erstarrte. Schließlich erhob sich Vater aus seinem Stuhl, packte den Knauf seines Gehstocks und hielt die Spitze auf mein Gesicht gerichtet.
    »Einmal! Ein EINZIGES MAL hab ich ihn so weit, in all den Jahren, und du versaust mir die Tour.«
    Der Stock suchte sich einen Punkt auf meiner Brust, ich fühlte mein Herz gegen die Spitze pochen. Mir war heiß. Durch die geöffnete Tür drang der Geruch des Gänsebratens ins Arbeitszimmer. Ich wollte schlucken, aber es ging nicht. Ich spürte Tränen über meine Wangen rollen.
    »Du verfluchte Missgeburt!«, rief Vater. »Nie kommt auch nur ein Sterbenswörtchen aus dir heraus, aber das eine Mal, wo ich siegen kann,

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