Nächsten Sommer
eine Whiskeyfahne. Seine Kleidung ist durchnässt. Es sieht aus, als stehe er schon seit Stunden dort und die Pfütze sei aus seiner Hose herausgetropft.
»Wieso bist du nicht im Bett?«, fragt er.
Jeanne antwortet nicht.
Jürgen stemmt die Hände in die Hüften. Sein Atem geht schwer, wie immer, wenn er zu viel getrunken hat. Von seinem mächtigen Rücken steigt Dampf auf.
»Kann ich doch nichts für«, sagt er. Unten, auf der Straße, nähert sich ein Auto mit klapperndem Auspuff. »Dass du so’ne frigide Kuh bist.«
|162| Jeanne sieht, wie die Flasche, die eben noch vor ihr stand, in Jürgens Richtung fliegt, sein Ohr um wenige Zentimeter verfehlt und durch das Fenster verschwindet. Vor dem Haus trifft Glas auf Glas, Scherben klirren auf dem noch feuchten Asphalt, Reifen quietschen. Jürgen erblickt den Schwulenbus, Orange und Weiß, mit geborstener Frontscheibe. Die Idioten aus dem Gorges.
»Nicht schon wieder«, murmelt er. Zu Jeanne sagt er: »Volltreffer.« Erst da hat sein Gehirn die nächste Information destilliert. »Hast du gerade versucht, mir ’ne Flasche an den Kopf zu werfen?«
Jeanne ist aus ihrer Trance erwacht. Sie springt auf, greift sich eine zweite Flasche aus dem Regal und holt aus. So stehen sie sich gegenüber. Jürgen geht einen Schritt auf sie zu. Sie erkennt den klaffenden Riss in seiner Unterlippe und das blutverkrustete Kinn. Erschrocken registriert sie, dass sie keinerlei Mitgefühl empfindet.
»Das wagst du nicht«, sagt Jürgen. Und weil er betrunken und sich seiner zu sicher ist, setzt er noch einen drauf. »Du würdest doch nicht mal ein offenes Scheunentor treffen.«
Was Jeanne wütender und zugleich trauriger macht als alles andere, ist, dass Jürgen ihr keine andere Wahl lässt, als ihn zu verachten. Nicht das geringste Bemühen ist sie ihm noch wert. Sie schleudert die Flasche, die ihn tatsächlich am Kopf treffen würde, doch Jürgen zieht ihn im letzten Moment zur Seite. Wieder klirrt es auf der Straße.
Jürgens Gesicht schwankt zwischen Cholerik und Fassungslosigkeit. »Na los«, ruft er, »aller guten Dinge sind drei!«
Jeanne hebt abwehrend die Hände, greift sich ihre Handtasche und läuft barfuß die Stufen hinab. Sie ekelt sich vor sich selbst. Und das wird sie ihm vielleicht noch weniger verzeihen können als alles andere: Dass er sie so weit gebracht hat, sich selbst zu verachten. Sie stolpert aus dem Haus, hinein ins Tageslicht, kneift die Augen zusammen und schreit auf, als plötzlich etwas Großes neben ihr auftaucht. Dann steht sie auf der Straße und dreht sich um die eigene Achse, als frage sie sich, wo sie sei.
Das große Etwas ist ein Bus, Orange und Weiß. Die Fahrertür öffnet sich, und ein junger Mann steigt aus. Jeanne erkennt ihn |163| wieder – der Typ von gestern Abend, aus dem
Louis.
Von einem Liebeslied hatte er gesprochen und wie schön das Leben sei. Komm mit mir, hatte er gesagt.
Eine Sekunde verstreicht, dann noch eine, bald schon sind es fünf, und am Ende sind beinahe zehn Sekunden verstrichen, ehe sie ihn fragt: »Gilt dein Angebot noch?«
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Ohne Seitenspiegel, mit geborstener Heck- und Frontscheibe sowie einem Auspuff, der mehr Gaffa als Blech ist, rumpeln wir über das Plateau Richtung Riez. Ich habe wieder das Steuer übernommen. Marc, dem noch mindestens zwölf Stunden Schlaf fehlen, um wieder bei null anzukommen, kauert auf dem Beifahrersitz. Alle haben einen furchtbaren Hangover, doch die Stimmung ist zuversichtlich. Lilith ist auf der Strecke geblieben, dafür ist Jeanne jetzt mit an Bord. Hinzu kommt die Erleichterung, Pui entronnen zu sein, diesem Dorf, in dem Drachen und wild gewordene Zyklopen hausen. Wir haben den Gorges überstanden und schießwütige Polizisten abgeschüttelt – was soll uns noch aufhalten?
Es riecht nach Regen auf heißem Asphalt, nach schweren Blüten und feuchter Erde. Die Berge, nach denen man gestern Abend die Hand ausstrecken konnte, erheben sich dunstverschleiert wie ein ferner Kontinent.
»Blut!«, ruft Bernhard unvermittelt.
»Oh«, sagt Jeanne, aus deren nacktem Fuß ein Blutsfaden rinnt, »ich bin in eine Scherbe getreten.«
»Ach du großer Gott!« Bernhards schrille Stimme schneidet durch die Luft. »Felix, halt an – wir müssen was tun!«
Ich fahre rechts ran. Entlang der Straße hangelt sich eine Stromleitung von einem Holzmast zum nächsten. In Reihen angelegte Lavendelsträucher ziehen sich über sanft geschwungene Felder. Ein Feldweg führt zu einem zerfallenen
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