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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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Marc eingeschlafen.
     
    Die Hochebene liegt hinter uns. Wir nehmen Kurs auf eine Bergkette. Während die Sonne ihrem Zenit entgegenstrebt, wechselt die Landschaft zwischen Tod und Leben. Aus schamlos grünen, ganze Hänge bedeckenden Reben sprießen die ersten Trauben, wenig später windet sich die Straße durch niedergebrannte Wälder, von denen nichts geblieben ist als totes Geäst und graue Asche.
    Langsam kommen die Berge auf uns zu: Sie sind nicht mehr besonders hoch, keine tausend Meter, und es sind die letzten. Dahinter kommt das Meer. Wir haben die ersten Ausläufer passiert und fahren durch St. Maximin, als wir auf einen Kreisverkehr treffen, aus dessen Mittelinsel haushohe Palmen wachsen.
    |173| »California, here I come«, summt Zoe.
    Auch Bernhard ist eingeschlafen. Im Schlaf scheint alles von ihm abzufallen. Genau wie bei Jeanne und Marc. Aus dem Bild der Nächstenliebe ist ein Bild des Friedens geworden.
    »Glaubst du, man kann schon baden?«, fragt Zoe.
    »Du meinst, im Meer?«
    Sie nickt.
    »Gestern wärst du beinahe ertrunken«, erwidere ich, »und heute willst du im Meer baden?«
    »Gestern war gestern, heute ist heute.«
     
    Ich dachte immer, man würde das Meer riechen und schmecken, bevor man es sieht. Doch das gilt nicht, wenn man nach La Ciotat kommt. Der Geruch der Stadt überdeckt alles andere. La Ciotat stinkt. Die Gassen sind eng, die Autos drängen sich dicht an dicht, und über allem hängt ein Geruch von feuchtem Beton und Diesel, der mich automatisch in den Heizungskeller meiner Kindheit zurückversetzt. Man weiß in etwa, wo das Meer sein muss, weil die Entladekräne des Industriehafens die Stadt überragen.
    Die Innenstadt stellt sich als Großbaustelle heraus. Wo man hinwill, interessiert niemanden. Das ist nicht wie mit Jesus, der einem die Wahl zwischen rechts und links lässt. Hier treiben Polizisten mit unwirschen Gesichtern den Verkehr wie Vieh in immer noch engere Gassen, bis einem jede Orientierung abhandenkommt. Wer stehen bleibt, wird angeblökt. Auf der Leuchttafel einer Apotheke blinkt in Grün die aktuelle Temperatur: 34°.
    »Die spielen blinde Kuh mit uns«, bemerkt Zoe.
    »Was ist das?«, frage ich.
    »Blinde Kuh? Na, was man auf Kindergeburtstagen spielt: Dir werden die Augen verbunden, und dann wirst du so lange im Kreis gedreht, bis dir schlecht ist. Anschließend musst du durchs Zimmer tappen und versuchen, jemanden zu fangen. Ich hab nie mitgemacht, weil ich’s irgendwie total sinnlos fand.«
    Ich antworte nicht. Auf Kindergeburtstage war ich nicht eingeladen.
    »Kennst du doch, oder?«, fragt Zoe.
    |174| »Ja«, antworte ich, »klar.«
    Es gibt auch schöne Ecken in La Ciotat. Den Yachthafen zum Beispiel, mit Hunderten weißglänzender Boote und der direkt an der Promenade gelegenen Kirche. Doch davon bekommen wir nichts zu sehen. Die Gasse, in die wir geraten, spuckt uns am Industriehafen aus. Hier ist alles fingerdick von weißem Staub bedeckt. Wie Puderzucker. Man kann nicht einmal erkennen, wo die Straße aufhört und der Bordstein anfängt. Die Lagerhallen, eng aneinandergereiht und jede so groß wie ein Flugzeughangar, scheinen auf Wüstensand gebaut.
    »Schau mal«, sage ich, als sich zwischen zwei Hallen eine Flucht auftut, die auf einen blauen Punkt zuläuft, »das Meer.«
    »Und so idyllisch.« Ein Kipplaster dröhnt vorbei und drückt seine Reifen in den Staub. »Ein Hauch mehr Romantik hätte ich schon erwartet«, bemerkt Zoe.
    »Das Haus meines Onkels liegt außerhalb, soweit ich weiß, Richtung Cassis.«
    »Soweit du weißt?«
    »Der Notar hat so was erwähnt.«
    Zoe sieht mich an, als hätte ich ihr gerade offenbart, dass das Haus von Onkel Hugo in Wirklichkeit in Schweden liegt. »Soll das heißen, du weißt gar nicht, wo wir hinmüssen? Keine Anfahrtsskizzen, keine Karten, keine Luftbilder?«
    »Ich hab die Adresse.«
    »Glückwunsch!«, schmunzelt Zoe. »Ich sag dir was: Als Anwalt der Gegenpartei würde ich dich mit so einer schlampigen Vorbereitung vor Gericht in zehn Minuten komplett auseinandernehmen.«
    »Ich bin kein Anwalt«, entgegne ich.
    »Nein, du bist …« Zoes Blick verliert sich in der weißen Staublandschaft um uns herum. »Weißt du was: Ich glaube, ich habe nie wirklich kapiert, was du bist.« Sie sammelt ihren Blick ein und sieht mich an: »Wer bist du, Felix?«
    Ich spüre, wie mir das Blut zu Kopf steigt. Da sind zu viele Türen, hinter die ich noch nie einen Blick geworfen habe. Allein die Anzahl macht jeden Versuch

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