Nächsten Sommer
Unsere Schatten haben sich bereits ins Haus geschlichen. Zoe dreht eine Handfläche nach oben, ihre schlanken Finger weisen ins Haus – eine Geste wie auf einem Renaissancegemälde.
»Welcome home, sir«, sagt sie.
Als wir eintreten, ergreift uns dieselbe Empfindung. Das Haus wirkt seltsam beseelt. Sein Geist geht noch um, denke ich. Als sei Onkel Hugo nur mal eben einkaufen gegangen und komme gleich zurück. Dann bemerke ich die frischen Schuhabdrücke in der feinen Staubschicht, die den Boden bedeckt.
»Ich dachte, dein Onkel sei gestorben«, sagt Zoe.
Schon wieder werde ich in meine Kindheit katapultiert. Es dauert einen Moment, bevor ich begreife, was der Grund dafür ist. Der Geruch. Es riecht nach Onkel Hugos Pfeife, dem Weihnachtsgeruch meiner Kindheit. Gleichzeitig steigt ein warnendes Gefühl in mir auf. Da ist noch etwas anderes, wie das Ticken einer Bombe in einem schlechten Film. Raus hier, denke ich, mach, dass du wegkommst.
Ich suche noch nach einer Zuordnung, nach etwas, was diesem |180| Gefühl einen Sinn verleiht, als ich das Rauschen von Wasser höre – eine Toilettenspülung. Im nächsten Moment wird im Flur eine Tür geöffnet. Zum dritten Mal wechseln Zoe und ich einen fragenden Blick. Das Klicken harter Absätze hallt durch die Zimmer. Bulette mit Senf. Das warnende Gefühl. Wie kann es sein, denke ich, dass es selbst in Südfrankreich nach Bulette mit Senf riecht, wenn er aufs Klo geht. Dann wird die Tür zum Wohnzimmer aufgerissen.
»Wird auch langsam Zeit, dass du kommst«, begrüßt er mich, »hab schließlich nicht ewig Zeit.«
|181| 34
»Ich will das Haus.«
Der Satz ist eine Feststellung. Er ist es gewohnt, durch das, was er sagt, Fakten zu schaffen. Indem er sagt: »Ich will das Haus«, gehört es ihm praktisch. Er steht vor mir, wie er vor mir stand, als ich noch Kind war. Halb erwarte ich, ihn sagen zu hören: »Gehst du freiwillig?«
Seine Haltung ist die eines Mannes, der niemandem Rechenschaft abzulegen hat, sein Auftreten ist fehlerlos: Die Finger manikürt, Uhr, Gürtel, Schuhe, Anzug – alles perfekt. Doch das Alter beginnt an ihm zu nagen. Seine Tränensäcke liegen auf den Wangen auf, und sein Haar wird langsam durchsichtig.
»Ist das dein Onkel?«, fragt Zoe.
»Nein, mein Vater.«
Er sieht sein Ende nahen, geht es mir durch den Kopf. Noch ist es nur ein Punkt am Horizont, doch er wird beständig größer. Und alles, was ihm bleibt, ist der Kampf. Ein Kampf, den er früher oder später verloren geben muss. Und niemand hasst es so sehr, zu verlieren, wie mein Vater. Angst. Er hat Angst, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass er am Ende nichts weiter sein wird als ein geldgefülltes Vakuum. Es ist so offensichtlich, dass ich mich frage, weshalb ich erst 26 Jahre alt werden und hierherkommen musste, um zu erkennen, dass es Furcht ist, die ihn antreibt. Dass er vor sich selbst wegrennt.
»Ich dachte, das Haus gehört dir«, sagt Zoe.
»So steht’s im Grundbuch«, antworte ich.
»Aber
mir
steht es zu«, fährt mein Vater fort. »Hugo war
mein
Bruder. Du könntest ja nicht einmal die laufenden Kosten aufbringen. Und außerdem fühlst du dich in deiner Hundehütte sowieso viel wohler.«
Zoe erwartet, dass ich etwas erwidere. Doch ich stehe da und |182| kann nicht antworten. Meine Zunge ist erstarrt, meine Arme kleben am Körper.
Kartenhauszahlen. Eigentlich sind es die Fünfeckszahlen der zweiten Art. Doch sie geben an, wie viele Karten für ein Kartenhaus benötigt werden: 2, 7, 15, 26, 40, 57 und so weiter. Ich stelle mir einen Kartenstapel vor, der niemals kleiner wird. Niemand kann mir Grenzen setzen. Bei 155, also zehn Etagen, fange ich an. Für die elfte Etage benötige ich 32 zusätzliche Karten, macht 187. Für die zwölfte Etage 35 = 222. Etage 13: Plus 38 = 260.
Zoe lässt gefühlte zwei Stunden verstreichen, bevor sie selbst das Wort ergreift: »Haben
Sie
die Schlösser austauschen lassen?«
Mein Vater, der Zoe bisher keines Blickes gewürdigt hat, nimmt sie ins Visier: »Wer bist
du
denn überhaupt?«
301.
345.
392.
442.
495.
Zoe tritt an mich heran. »Ich bin Felix’ Anwältin.«
Sie merkt, dass ich sie ansehe, hält aber weiter dem Blick meines Vaters stand. Nach einer Minute hat mein Kartenhaus 40 Etagen, ist so hoch wie ein Elefant und besteht aus 2420 Karten beziehungsweise 22 Rommeeblättern.
Mein Vater lacht kurz auf: »Hör zu, Kindchen«, erklärt er, »das hier ist eine Sache zwischen mir und meinem Sohn, und wenn ich an deiner
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