Nächsten Sommer
kann ich es nicht. Zwei Trampelpfade gehen vom Parkplatz ab. Der eine führt über eine in den Fels geschlagene Treppe hinunter in eine Bucht, der andere schlängelt sich in den Hain. Zoe und ich steigen aus und vertreten uns die Beine. Es wird noch Tage dauern, ehe sich unsere Körper wieder normal anfühlen. Die anderen rühren sich nicht. Wir könnten den Bus die Klippe hinunterstürzen, ohne sie zu wecken.
»Bist du nicht müde?«, frage ich.
»Doch.«
»Warum schläfst du dann nicht wie die anderen?«
»Ist das ’ne Fangfrage?«
»Ich frage mich einfach, wo du die Energie hernimmst.«
»Frag dich lieber, wo
du
die Energie hernimmst. Du schläfst doch praktisch überhaupt nicht.«
»Ich esse ja auch nicht.«
Zoe schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar. »Versteh ich nicht.«
»Wer nichts isst, braucht auch keinen Schlaf.«
Zoe wirft mir wieder diesen Blick zu, wie vorhin. Als frage sie sich, in welcher Höhle ich bis jetzt mein Leben gefristet habe. »Sollte das gerade ein Scherz sein?«, fragt sie.
»Ja.«
Sie sieht sich um. »Also, wie man Scherze macht …«, murmelt sie halblaut vor sich hin, »… da müssen wir noch dran arbeiten.« Dann ist sie wieder bei mir. »Was willst du zuerst?« Sie nickt in Richtung der beiden Wege. »Runter ans Meer oder das Haus suchen?«
Ich bin kurz davor, ihr von der Vision zu erzählen, die ich unten am Hafen gehabt habe, von ihrer Berührung und dem Kuss.
|178| »Rechts oder links?«, überlege ich.
»Rechts oder links«, bestätigt Zoe.
»Ich glaube, ich würde gerne das Haus finden«, sage ich.
»Na dann …« Zoe nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her in den Hain.
Der Geruch von Harz und Piniennadeln hängt schwer zwischen den Bäumen. Unter unseren Füßen knistert der Boden. Aus der Bucht weht feuchte Luft zu uns herauf.
Der Pfad verbindet die Felsausläufer miteinander. Nach ungefähr 50 Metern blitzt zwischen den Bäumen eine weiß getünchte Mauer auf. Ich bleibe stehen. Zoe hat sie noch nicht entdeckt. Meine Hand löst sich aus ihrer.
»Was ist?«, fragt sie.
»Da ist es«, antworte ich.
Zoe folgt meinem Blick. »Woher weißt du das?«
»Weiß ich nicht.«
Ein zweiflügeliges, schmiedeeisernes Tor, dessen Rundbogen die Mauer überragt, gibt den Blick auf Haus und Grundstück frei. Der Garten wirkt wild gewachsen, aber gepflegt. Akribisch naturbelassen. Vor der Terrasse wuchern unterschiedliche Spezies: Buchsbaum, Steineiche, Rosmarin … Jeweils ein Exemplar. Wie eine Arche für Pflanzen, denke ich. An den Säulen des Vordachs rankt sich Efeu empor. Der süße Duft bunt blühender Rhododendronsträucher streckt seine klebrigen Tentakel durch die Torstreben. Alles andere – Alltag, Lärm, Missgunst – hält die Mauer ab. Es ist das Refugium eines Menschen, der dem Rest der Welt gerne den Rücken kehrt.
Das Haus liegt zurückgesetzt und leuchtet in einem warmen Altrosa durch die Büsche. Es ist größer, als ich erwartet habe. Kein Bauwagen, sondern ein richtiges Haus, mit verschiedenen Zimmern, deren dunkelrot abgesetzte Holzläden zum Teil geöffnet sind. Durch das Tor blickt man auf die Rückseite mit der Terrasse, zur Vorderseite gelangt man über einen Weg, der im Schatten der Mauer um das Haus herumführt. Dahinter ragen fünf Zypressen wie grüne Pfeiler in den milchigen Himmel. Zwischen den Bäumen fliegen Vögel hin und her, deren Namen ich nicht kenne. Als ich mich umdrehe, wird mir klar, warum Onkel Hugo |179| für das Tor diesen Platz gewählt hat: So kann man von der Terrasse aus das Meer durch die Bäume schimmern sehen.
»Hast du den Schlüssel?«, fragt Zoe.
Habe ich. Brauche ich aber nicht. Das Tor ist unverschlossen. Zoe und ich wechseln einen Blick, dann drücke ich den Flügel auf. Er quietscht in den Angeln. Zwei Eidechsen verschwinden in einer Mauerritze. Wir gehen den Weg um das Haus herum, bis wir vor der baumbeschatteten Eingangstür stehen.
Mein Schlüssel passt nicht.
»Doch nicht das richtige Haus?«, fragt Zoe.
Ich deute auf die Tür: »Da ist ein neues Schloss drin.«
Zoe besieht sich den glänzenden Schließzylinder. »Und jetzt?«
»Terrasse?«, schlage ich vor.
Die äußeren Holztüren sind unverschlossen, die inneren, mit dem Glaseinsatz, nur angelehnt. Wieder sehen wir uns an. Was jetzt? Zoe drückt mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen das Glas. Schwerelos schwingt der Türflügel auf.
Die Terrakottafliesen glänzen warm im Sonnenlicht, der Raum erwacht wie aus dem Mittagsschlaf.
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