Nächsten Sommer
unmöglich. »Ich glaube, ich würde lieber nicht …«
|175| »Schon gut.« Zoe streicht sich die Haare aus dem Gesicht. »Aber bilde dir nicht ein, ich würde die Frage vergessen.«
Ich versuche mich an einem Lächeln.
»Schleimen zwecklos«, antwortet Zoe.
»Sollen wir nicht lieber zum Haus meines Onkels fahren?«, frage ich.
»Wo du gerade davon sprichst: Wie, sagtest du noch mal, kommen wir dahin?«
Ich lege meine Stirn in Falten. Irgendwie, dachte ich, würde uns das Haus schon finden, wenn wir erst hier sind. Schließlich wartet es auf uns.
»Halt mal an«, sagt sie.
Wir stehen vor der Einfahrt zu einem Umschlagplatz. Im Minutentakt kommen Dreißigtonner, die Fahrer reichen Papiere aus dem Fenster, warten, bis sich die Schranke hebt, machen sich auf den Weg. Das Pförtnerhäuschen besteht aus zwei übereinandergestapelten Containern, die mit dem Rest der Welt durch eine Stromleitung verbunden sind.
Zoe greift sich ihre Handtasche, klappt ihren Schminkspiegel auf, zieht sich die Lippen nach, knetet ihre Haare und knöpft ihre Bluse so weit auf, dass ihr schwarzer Spitzen-BH zum Vorschein kommt. Ziemlich viel davon.
»Wie sehe ich aus?«
»Ähh … gut, würde ich sagen.«
»Na, wenn das nichts ist …«
Sie beugt sich langsam zu mir herüber. Unwillkürlich schließe ich die Augen. Ihr Atem streift mein Ohr. Sie riecht nach Lavendel und Honig. Kurz darauf berühren sich unsere Lippen. Ihr praller Spitzen-BH drückt sich gegen meinen Arm, ihre Zunge tastet sich in meinen Mund vor …
Als ich die Augen öffne, sehe ich Zoe mit dem Zettel auf der anderen Straßenseite stehen und winken. Dann klopft sie gegen die Tür des Containers.
Ein untersetzter Mann mit sehr kurzen Beinen öffnet die Tür. Sein Gesicht befindet sich auf Augenhöhe mit Zoes Dekolleté. Er trägt ein blaues Kurzarmhemd mit Schweißflecken unter den Achseln sowie eine dunkelblaue Mütze mit Blende. Er muss den |176| Kopf ziemlich weit in den Nacken legen, um Zoe in die Augen zu schauen.
Zoe redet auf ihn ein, zeigt ihm den Zettel und gestikuliert in meine Richtung.
Der Mann zieht an seiner Mütze, kaut auf seinem Kaugummi und blickt ihr in den Ausschnitt.
Zoe führt die gefalteten Hände zum Mund und wippt auf den Fußballen – bitte, bitte! Ihre blasse Haut leuchtet wie Marmor. Der Mann verschränkt die Arme vor der Brust.
Zoe lächelt.
Der Mann lässt sie herein.
Ich frage mich, wann ich Zoe das letzte Mal so … lebendig erlebt habe. Ein Kipplaster dröhnt vorbei und bringt den Bus zum Wackeln. In der Schule vielleicht. Als alles noch vor uns lag. Die drei auf der Rückbank verziehen keine Miene. Auch Bernhards Kopf lehnt inzwischen an Marcs Schulter. Jeanne rechts, Bernhard links, Marcs eigener Kopf durch die beiden anderen gestützt. Vielleicht noch nie, denke ich. Die Tür des Containers öffnet sich, Zoe tritt heraus und wedelt mit zwei bedruckten DIN-A4-Blättern. Das Mittagslicht ist so hell, dass es ihre Konturen auflöst.
»Das ist ja ein Foto«, sage ich, als sie mir den Ausdruck gibt, auf dem der Hafen aus der Vogelperspektive zu sehen ist, allerdings mit beschrifteten Straßen.
Zoe legt mir die Hand auf den Arm. »Pass auf, Felix: Wenn ich eines Tages mal fertig bin mit allem – also dem Leben generell und so weiter –, dann schicke ich dir eine Brieftaube, und du nimmst mich mit auf deinen Planeten, okay? Bis dahin lass uns so tun, als lebten wir auf der Erde. Ja, das hier ist, wie du ganz richtig bemerkt hast, ein Foto vom Hafen. Nennt sich Google Earth. Kannst du von so ziemlich jedem Ort der Welt machen. Der markierte Punkt hier«, sie nimmt ihre Hand von meinem Arm und zeigt mir die entsprechende Stelle, »ist unser Ziel. Und wir stehen hier, vor dieser Halle. Das bedeutet: Siehst du diesen Felsen?«
Ich blicke aus dem Fenster. Halb rechts vor uns erhebt sich keinen Kilometer entfernt ein rötlicher Felsen aus dem Meer. Er ist etwa 150 Meter hoch und deshalb kaum zu übersehen. »Meinst du den?«
|177| »Exakt. Da müssen wir hoch, dann drumherum, und dann, hier, am Ende dieses Weges, muss es sein.«
Ich sehe mir die Aufnahme an. »Aber da ist kein Haus.«
»Wenn die Adresse richtig ist, dann ist da eins.«
Die Straße, in der das Haus meines Onkels sein soll, führt durch einen Pinienhain und endet auf einem Wendeplatz oberhalb der Felsen. Von der Stadt ist nichts mehr zu sehen. Ich parke neben einem silbergrauen Mercedes. Jetzt kann ich auch das Meer riechen und höre die Brandung. Nur sehen
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