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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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zum Einsturz gebracht habe. Verwundert stelle ich fest, dass meine letzte und einzige Karte zwei Seiten hat. Es ist kein Bild darauf zu sehen und keine Zahl, nur zwei Farben: Schwarz auf der einen Seite, Weiß auf der anderen.
    »Gibt’s hier ein Schachbrett?«, frage ich.
    »Was?!« Mein Vater hasst es, aus dem Konzept gebracht zu werden.
    »Weißt du, ob es in diesem Haus ein Schachspiel gibt?«, wiederhole ich meine Frage.
    »Natürlich. Steht im Arbeitszimmer.«
    »Dann lass uns spielen«, schlage ich vor.
    »Was?« Wenn er in seinem Groll gefangen ist, muss man ihm alles zweimal erklären.
    »Wir spielen darum«, sage ich. »Wenn du gewinnst, bekommst du das Haus. Gewinne ich, verlässt du mein Haus – und mein Leben.«
    Unter den fülligen Wangen beginnen seine Kiefer zu mahlen. Das Knirschen seiner Zähne ist zu hören. Er blickt von Bernhard zu Jeanne zu Marc zu Zoe zu mir. »Pah!« Er dreht sich um und stapft aus dem Zimmer. »Hier lang!«
    Als ich das Zimmer verlasse, höre ich Marcs Stimme in meinem Rücken: »Bau jetzt bloß keinen Scheiß, Mann.«

|186| 35
    In Onkel Hugos Arbeitszimmer liegt Parkett, während die Böden im Rest des Hauses gefliest sind. In der Tür stehend, zögere ich. Wenn ich im Wohnzimmer das Gefühl hatte, Onkel Hugo sei nur mal eben einkaufen gegangen, dann ist er hier praktisch anwesend.
    Auf dem Schreibtisch herrscht die Ordnung eines Menschen, der weiß, dass er nicht zurückkehren wird. Die Pfeife liegt abgeklopft im Aschenbecher, ein Kästchen aus abgegriffenem Holz beherbergt Bleistift und Kugelschreiber, das dazugehörige Sortierfach für die Korrespondenz ist leer. Alles erledigt. Quer auf der grünen Schreibunterlage liegt der Füller. Über dem Stuhl hängt eine sorgsam in die Jahre gekommene Kaschmirjacke, für abends, wenn es kalt wird. Zwei Wände sind über Eck und bis unter die Decke von Bücherregalen verdeckt. Das meiste sind Nachschlagewerke, Klassiker sowie medizinische Fachbücher und nach Jahrgängen geordnete Zeitschriften. In der Nische steht ein runder Tisch mit einem ins Furnier eingearbeiteten Schachbrett, rechts und links davon zwei Sessel.
    Die Figuren stehen spielbereit auf ihren Startpositionen. Ich befühle den Tisch und betrachte die Reihen. Onkel Hugo, das weiß ich noch, spielte am liebsten mit Schwarz.
    »Du kannst Weiß haben«, sage ich und deute auf den Stuhl in der Ecke.
    Noch bevor er sich gesetzt hat, schickt mein Vater bereits seinen ersten Bauern ins Gefecht. Auch die nächsten Züge kommen wie aus der Pistole geschossen. Er eröffnet, als müsse er meine Bauern überrennen und meinen Königssitz im Sturmlauf erobern. Nach nur sechs Zügen beherrschen seine Figuren zwei Drittel des Brettes. Wie durch Glas verfolge ich, dass er ein erstes Loch in meine Deckung reißt und meinen Bauern an den Rand stellt. Anschließend wischt er sich die Hand am Hosenbein ab.
    |187| Warum er meinen Vater nicht einfach mal gewinnen lasse, hatte ich Onkel Hugo damals gefragt, und er hatte geantwortet, dass er das Gefühl habe, mein Vater fordere ihn nur deshalb immer wieder heraus, um zu verlieren. Zum ersten Mal wird mir klar, wie sehr mir Onkel Hugo die letzten zwanzig Jahre gefehlt und was sein Verschwinden für eine Leerstelle bei mir hinterlassen hat. Unterdessen hat der Bauer am Spielfeldrand Gesellschaft von einem Berufsgenossen erhalten, und die Lücke in meiner Deckung hat sich vergrößert. Loslassen, hat Zoe gesagt, darin mache mir keiner was vor. Und dass ich zu wenig am Leben hinge.
Gibt’s auch mal irgendwas, das du festhalten willst?
    Ich könnte versuchen, an diesem Haus festzuhalten. Aber was wäre damit gewonnen? Mein Vater will es so viel stärker als ich. Und wozu ich auf der Welt bin, weiß ich mit Haus genauso wenig wie ohne. Vielleicht habe ich für immer meine Ruhe vor ihm, wenn ich ihn gewinnen lasse. Kein Besitztum der Welt könnte das aufwiegen. In meiner »Hundehütte« hat es mir an nichts gemangelt, vermisst habe ich dort jedenfalls nichts. Vielleicht, geht es mir durch den Kopf, sollte ich das Haus nur erben, um diese Reise zu unternehmen. Ich bemerke den Glanz in den Augen meines Vaters, und als ich auf das Brett blicke, hat er mein Pferd geschlagen, das sich zu den Bauern gesellt hat und vom Rand aus das Geschehen verfolgt.
    Zwölf Züge liegen bereits hinter uns. Wenn ich so weitermache, hat mich mein Vater in noch einmal so vielen matt gesetzt. Ich nutze die nächsten drei Züge, um mich so zu positionieren, dass

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