Nächsten Sommer
wenigstens sein Sturmlauf erschwert wird. Trotzdem verliere ich einen weiteren Bauern sowie einen Turm. Für den Turm muss mein Vater seine erste Figur, ein Pferd, opfern, doch bei diesem Spielstand kostet ihn das ein Grinsen. Die nächste Angriffswelle rollt bereits, diesmal über die Flanken.
Ich sehe Napoleon, mit dem Kopf meines Vaters, wie er mit seinen 1000 Getreuen die Route entlangmarschiert, die später nach ihm benannt werden wird, immer in der ersten Reihe, bereit, alles zu unterwerfen, was sich ihm nicht freiwillig anschließt, alle Kraft auf ein Ziel gerichtet: Paris. Die Königsresidenz.
Die Stoßrichtung muss stimmen
, wie Liliths Schwager es formuliert hat.
|188| Die Ungeduld meines Vaters wächst. Erst sah alles nach einem schnellen Sieg aus, jetzt stagniert das Spiel. Neben den vielen Zeitschriften und Fachbüchern in Hugos Regal entdecke ich eine Ecke mit Kinderbuchklassikern: Michel aus Lönneberga, Das fliegende Klassenzimmer, Nils Holgersson … Trotz seiner klaren Übermacht findet mein Vater keine geeignete Stelle, um meine Burgmauern zu erstürmen. Mir dagegen sind die Hände gebunden. Ich kann nichts weiter tun, als auf einen Fehler von ihm zu warten. Drei Züge lang ertragen es seine Mannen, auf der Stelle zu treten, dann bringen sie ihr schwerstes Geschütz in Stellung: die Dame.
Unter den Kinderbüchern befindet sich auch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« – eine Welt voller märchenhafter Orte und sonderbarer Wesen. Ich erinnere mich an den Drachen Mahlzahn und wie dankbar er war, als Jim und Lukas ihn besiegt hatten, ohne ihn zu töten. So konnte aus ihm der goldene Drache der Weisheit werden. Ein zweifach gedeckter Läufer meines Vaters hat die Burgmauer erklommen. Ich kann ihn von der Mauer stoßen, doch nur um den Preis eines eigenen Läufers. »Niemand, der böse ist, ist dabei besonders glücklich«, hatte der Drache Mahlzahn erklärt, und dass die Drachen nur deshalb böse seien, damit jemand kommt und sie besiegt.
Mein Vater hat die königlichen Gemächer im Visier und wetzt bereits das Messer der Guillotine. Nach jedem Zug klopft sein Zeigefinger fordernd auf die Tischplatte. Hat nicht funktioniert. Das mit dem Besiegen. Jedenfalls nicht bei meinem Vater. Auch wenn Onkel Hugo es immer wieder versucht hat. Das Leben ist eben kein Märchen. Ich ziehe mein Pferd aus der Deckung und öffne ihm die Pforte zum finalen Sturmlauf. Sofort setzt er seinen Läufer darauf an, infiltriert die Burg und erkennt in dem Moment, da er die Finger von der Figur löst, dass mein Pferd mit dem nächsten Zug seinen König und seine Dame gleichzeitig bedroht.
Der Moment der Erkenntnis äußert sich in einer Veränderung, die hinter seinen Augen vor sich geht: Die unumstößliche Überzeugung, dass nicht ist, was nicht sein darf, trifft auf die nicht zu ignorierende Tatsache, dass sich unter ihm eine Falltür aufgetan hat. Als er mich ansieht, spiegelt sich vor allem Unglauben in seinem |189| Blick. Er kann nicht fassen, dass ich tatsächlich den ultimativen Verrat an ihm begehen werde: Vatermord.
»Tut mir leid«, sage ich.
Nach dem Verlust der Dame dauert es weitere neun Züge, ehe mein Vater seinen Stuhl umstößt und aus dem Zimmer, aus dem Haus und aus meinem Leben stampft, ohne die Partie beendet zu haben. Niemand wird ihn jemals dazu bringen können, eine Niederlage einzugestehen.
Ich höre, wie die Terrassentür zugeschlagen wird und dabei eine Scheibe zu Bruch geht. Dann ist er weg. Eilige Schritte kommen über den Flur, und dann stehen sie im Zimmer: Marc, Zoe, Bernhard und Jeanne.
»Ich glaub’s nicht«, sagt Marc. »Du hast ihn tatsächlich gefickt.«
»Ich wollte einfach nur, dass er mich in Ruhe lässt.«
Und dann bestürmen sie mich, Marc zerrt mich aus dem Sessel, und wir umarmen uns wie nach dem Gewinn einer Meisterschaft. Wieder im Wohnzimmer, fühle ich mich wacklig auf den Beinen.
»Ich dachte schon, du würdest deinen Vater gewinnen lassen«, sagt Zoe.
»Dachte ich auch.«
»Und«, fragt Marc, »warum haste nicht?«
Die Scherben der zerbrochenen Scheibe glitzern wie Diamanten auf den Fliesen. »Schätze, ich bin einfach noch nicht so weit«, antworte ich, dann knicken mir die Beine weg. Ich kann gerade noch »Danke, Zoe« sagen, bevor der Raum zu schwanken beginnt und die Gegenstände ihre Farben wechseln. Der Boden leuchtet grünlich, das Sofa, eben noch schwarz, schimmert rosa. Sehr psychedelisch, das Ganze. Zoe ergreift meinen Arm, und indem sie das
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