Naechte am Rande der inneren Stadt
Geheimnistuerei; aber Anka, die uns kurz ansah und grinste, fing die Situation mit
ihrer Unbefangenheit auf. Sie war anderthalb Jahre jünger als Eva, hatte graue Augen und gerade ihr Studium der Biologie in
Tübingen aufgenommen. Sie lümmelte auf dem Gartenstuhl in T-Shirt und hochgekrempelten Hosen, unter denen derbe Stiefel vorguckten, und sprach mit Händen und Füßen, um nicht zu sagen mit
Armen und Beinen. Ich habe nie einen leichtfüßigeren Menschen kennengelernt. Anka perlte und kicherte, stellte einen Haufen
Fragen, kommentierte alles. Evas Anspannung löste sich wieder, und wir amüsierten uns den ganzen Nachmittag miteinander.
Zwischendurch, als ich die beiden Mädchengesichter vor mir sah, geschah etwas Sonderbares, was meine untergründige Unsicherheit
wieder aufriss: Die beiden schienen sich zu verflüchtigen. Wie Metall. Ich sah sie an, sie waren da, Eva war besonders schön,
ein bisschen rot von der Sonne, mit einem ausgeschnittenen blauen Kleid und ihrer hellen Haut am Hals, und zugleich entzogen
sie sich mir vollständig. Ich trieb von ihnen fort, ich hätte am liebsten nach beiden gegriffen,
haltet mich fest, der Fluss nimmt mich mit!
Eva beugte sich unvermittelt vor und küsste mich auf den Mund.
Wir gehen jetzt, sagte sie, genug geplaudert. Anka muss zum Zug, und wir haben ja auch noch etwas vor. Ich gehe nur noch für
kleine Mädchen.
Anka zahlte. Sie sah mich aufmerksam an, holte tief Luft und sagte: Ich nehme kaum an, dass sie es dir gesagt hat.
Was? fragte ich entsetzt. Ich war sicher, dass sie mir sagen würde, Eva wäre verheiratet, obwohl mein Verstand diesen Gedanken
umgehend für absoluten Unsinn erklärte.
Unsere Mutter –
Ich atmete auf.
Unsere Mutter war ein bisschen durcheinander. Wir wissen nicht genau, was sie hatte. Sie verschwand immer wieder, und eines
Tages, im Winter, ist sie nicht zurückgekommen.
|61| Ach, sagte ich. Das war es also!
Anka beugte sich vor. Ich roch sie. Sie roch dunkler als Eva, obwohl ihr Haar heller war, zimtig, und auch nach Patschuli,
ein schreckliches, aber damals sehr beliebtes Parfüm. In ihren grauen Augen waren winzige bernsteinfarbene Sprenkel zu sehen.
Du darfst Eva nicht sagen, dass ich es dir gesagt habe, sie bringt mich um!
Sie zog sich ruckartig zurück.
Da kommt sie schon, sagte sie.
Warum hast du mir nicht von deiner Schwester erzählt? fragte ich Eva an jenem Abend, als wir durch die Straßen liefen, in
denen es gar nicht dunkel zu werden schien. Oder von deiner Mutter?
Ich weiß es nicht, sagte Eva. Es hat sich nicht ergeben.
Was ist mit deinem Vater? fragte ich.
Hat sie etwas gesagt? fragte Eva ungeduldig. Ich sah, dass sie wütend wurde. Sie sah mich mit ihren grünen Augen an, als würde
sie gleich sagen,
geh bloß weg,
so wie bei der Sache mit dem Kater.
Was sollte sie denn gesagt haben? Ich mimte den Unschuldigen.
Ach nichts, sagte Eva. Mein Vater lebt allein; wir können ihn ja mal besuchen. Aber ich habe eigentlich keine Lust dazu. Ich
wünschte manchmal, wieder in einer ganz anderen Stadt zu leben, vielleicht in London, er hat mir auch gesagt, dass er mir
einen Aufenthalt bezahlen würde, aber erst, wenn ich mein Grundstudium hinter mir habe. Das braucht man auch, um zum Beispiel
bei
Sothebyś
ein Volontariat zu machen. Weißt du, ich hätte einfach gern die Freiheit, eine andere zu sein. Man muss doch auch mal von
den Eltern weg. Außerdem ist mein Vater viel unterwegs.
Ich sah sie verwirrt an. Du willst also weg?
Natürlich! sagte sie. Willst du denn ewig hier bleiben?
|62| Aber du hast doch schon in Paris studiert!
Na und? Es gibt doch so viele Orte auf der Welt!
Ja und was wird mit uns? stammelte ich. Mir wurde schwindelig.
Ich hasse dich, sagte sie, plötzlich kreidebleich, wenn du mir so misstraust.
Sie fing an zu rennen. Ich rannte hinter ihr her, hielt sie fest, doch sie schlug mir ins Gesicht.
Lass das bloß sein, schrie sie, du machst alles kaputt!
Was hätte ich tun sollen? Sie riss sich los, und ich ließ sie laufen. Wenn ich daran denke, wie sie dort im blauen Kleid zwischen
den grauen, alten Häusern davonrannte, schnürt sich mir noch heute die Kehle zu. Eva, wollte ich rufen, doch ich bekam keinen
Ton raus.
Ich wusste gar nichts von ihr! Nichts von dieser sonderbaren Sache mit ihrer Mutter, nichts von ihrer Schwester, nicht, wo
ihr Vater wohnte. Ich hatte noch nicht einmal danach gefragt! Natürlich kannte ich Berliner, die in
Weitere Kostenlose Bücher