Naechte am Rande der inneren Stadt
den kalten Schweiß im Gesicht, das abgesäbelte Haar. Die Leute sahen sie aus den Augenwinkeln komisch an, gingen aber an
ihr vorüber. Zu viele lungerten am Bahnhof herum, und zu viele streckten ihre |157| Glieder auf dem Boden aus, bevor irgendjemand in der Politik beschloss, diesem Bahnhofsleben ein Ende zu bereiten, das zum
Synonym unserer Stadt geworden war.
Opa hat uns geholfen; Eva ließ sich nur von Opa helfen. Sie wollte zu keinem anderen Arzt. Opa gab ihr eine Beruhigungsspritze,
ich kochte Tee, legte ihr kalte Tücher auf die Stirn und wiegte sie wie ein Kind. Wollte ich vom Bett fort, krallte sie sich
an meiner Hand fest; einmal fiel sie aus dem Bett und kroch hinter mir her. Ich rief Robert an, er sollte das Tier füttern
gehen. Zu Opa konnte ich Josef nicht nehmen. Nach drei Tagen transportierten Robert und ich sie in ihre Wohnung, sie wollte
es unbedingt, damit der Kater nicht allein blieb.
Die Wohnung war vollkommen verwahrlost. Es stank nach Katzenpisse und Terpentin. Farbtuben lagen herum, ausgebreitetes Zeitungspapier,
ein angefangenes, wüstes Bild, ihre Anziehsachen, Bücher, Platten. Josef war noch magerer geworden und strich jammernd um
meine Beine. Im Kühlschrank lagen vergammelte Reste.
Los, sagte ich, wir räumen auf.
Robert ging einkaufen. Eva setzte sich aufs Bett und sah mir zu. Es war eine Heidenarbeit. Einmal ging ich in die Küche, und
als ich wiederkam, war sie umgekippt und eingeschlafen. Sie sah noch tagelang elend aus, mit tiefen Ringen unter den Augen
und blutleeren Lippen. Unter dem nachwachsenden dunklen Haar sah man die helle Kopfhaut, sie hatte etwas von einem nassen
Tier.
Es dauerte zwei, drei Wochen, bis sie aus diesem Zustand wieder herausfand. Jeden Morgen wollte sie zur Hochschule fahren;
doch schon in der Küche beim Frühstück war sie so kraftlos, dass ich ihr wieder ins Bett helfen musste. Einmal fragte sie
mitten in der Nacht, wie spät es wäre. Ich sagte: Mitternacht.
Der wievielte ist heute? fragte sie.
Ich sagte ihr das Datum.
|158| Dass man den neuen Tag mitten in der Nacht anfängt, sagte sie und schüttelte lange den Kopf.
Sie bat mich, neben ihr im Bett zu schlafen. Ich legte mich in einem vorsichtigen Abstand zu ihr, doch oft rückte sie dicht
an meinen Körper oder streckte im Halbschlaf ihre Hand nach mir aus. Manchmal stieß sie mich auch böse weg und sagte, ich
sei ein Dogmatiker, ein Melancholiker, der die maßlose Unordnung seines Herzens in einer selbst verordneten Ordnungszwanghaftigkeit
besiegen wollte. So ähnlich jedenfalls. Sie redete wirr über die Gewalt gegen sich selbst, die ich mir antäte.
Du bist mir ja ein großartiges Vorbild in diesen Dingen, erwiderte ich nur.
Unterwürfigkeit und Betteln gegen andere! schrie sie mit ihrer halben Stimme; danach entschuldigte sie sich. Oder sie blaffte
mich nur mit einzelnen Worten an: Ich-Welt-Ordnung. Welt-Ordnung-Ich!
Manchmal musste ich darüber lachen, manchmal weinen.
Kannst du denn nicht mal wütend werden? fragte sie, bevor sie wieder umkippte und einschlief.
Nein, sagte ich leise, nicht bei dir, und streichelte sie im Schlaf.
Ich fragte Opa, ob sie es allein schaffen würde. Ich hatte das dringende Gefühl, sie würde Hilfe brauchen. Eine andere als
meine. Opa sagte, wenn es länger als drei oder vier Wochen anhalten würde, müsste er sie einweisen. Aber er wüsste, was es
hieß, eingewiesen zu werden, und was es insbesondere für einen Menschen wie Eva heißen würde, eingesperrt unter Fremden zu
sein, und wenn mir an ihr läge, würde er mir helfen, sie so durchzubekommen. Er gab ihr Medikamente und Vitamin- B-Spritzen , verordnete Schlaf, regelmäßiges Essen und Spaziergänge. Zu den beiden letzteren Dingen hätte ich sie zwingen müssen.
Ich hatte Opa bis dahin nie als Arzt erlebt. Er war in seine |159| Praxis gegangen und damit aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Zum ersten Mal hörte ich ihn mit seiner ärztlichen Stimme
sprechen, die anders als seine sonstige war, kontrollierter und neutraler, bei aller Anteilnahme etwas streng. Ich wurde fast
eifersüchtig: auf ihn, weil Eva ihn vertrauensvoll ansah, und auf sie, weil sie in den Genuss dieser Zuwendung kam. Weil er
mich mehrmals aus dem Zimmer schickte und die Tür hinter sich schloss, um mit Eva allein zu sprechen.
Als es ihr etwas besser ging, lud ich sie zum Essen ins »Aroma« ein, ein italienisches Restaurant in Schöneberg, das überwiegend
von
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