Naechte am Rande der inneren Stadt
wie ich sie niemals erlebt habe. Ich habe das
Gefühl, darin verloren zu gehen, mir selbst abhanden zu kommen. Doch ich mache immer weiter.
Heumann ist mir eine große Unterstützung. Er nimmt mich |162| mit in die Ateliers und passt auf, dass ich mit keinem der Maler etwas anfange, obwohl es ein Leichtes wäre. Ich lerne jeden
Tag. Das rettet mich. Ich gerate in Regionen beim Sehen, in die ich ohne meinen großen Kummer niemals geraten wäre. Ich sehe
Schwarzes, ich sehe das Nichts, und ich sehe, wie Formen und Farben daraus wachsen. Ich verschwinde in van Goghs Wirbeln,
die er um die Sterne malt, Spiralnebel, von denen er glaubte, dass die Sterne aus ihnen zusammengesetzt wären. Die himmlischen
Körper sind nichts gegen die irdischen, Jackson!
Weil mein Schönes mir abhanden kam, suche ich die Schönheit in den Bildern. Ich vermeide die Erinnerung an dich, weil sie
mir jedes Mal ein Zucken durch den Körper jagt, und ich suche die Erinnerung, weil ich sonst ein Glück verliere, das ich nun
einmal kennenlernte.
Ich war so krank, und du hast nur zweimal angerufen, und ich weiß nicht, wohin ich dir diesen Brief schicken soll, denn ich
habe noch immer keine Adresse, obwohl du längst in Australien bist. Ich habe ein solches Bedürfnis, mit dir zu reden. Ich
nehme nicht mehr so viele Tabletten und habe nicht mehr so oft Kopfschmerzen; sie lauern aber noch in meinem Rücken. Wenn
ich mich auf Bilder konzentriere, verschwinden die Schmerzen. Ich gehe oft mit Heumann ins Museum. Heumann ist so freigebig
mit seinem Wissen, wo andere knauserig sind, als würde man ihnen etwas wegnehmen. Er weiß, wie Bilder und andere Arbeiten
gemacht sind; er versteht etwas vom Material, was darin gespeichert ist, welche Bedeutung es hat. Was bei Beuys zum Beispiel
alles im Fett und im Filz steckt, an historischer und persönlicher Erfahrung, der Mantel, in den ihn die Russen wickelten,
die ihn fanden und aufnahmen, als er im Krieg über der Krim mit dem Flugzeug abgestürzt war. Das Talgfett, mit dem sie seine
Wunden einrieben. Und dann der Hunger der Nachkriegsjahre. Das Grünbraun des Filzes und das milchige Gelb des Fetts sind Farben,
die eng mit dieser Zeit verbunden sind – |163| und die ich aus eigener Anschauung schon gar nicht mehr kenne, nicht kennen kann. Wir sprechen oft vom Gedächtnis der Farben.
Hast du gar kein Gedächtnis? Du schweigst zu viel! Schreibe mir doch wenigstens! Wenn ich dein Bild nicht hätte, würde ich
allmählich glauben, ich hätte mir dich ausgedacht. Ich wünschte, der Sommer wäre zu Ende, denn das Gedächtnis des Sommers
wird auf immer Jackson heißen...
In seinem letzten Brief, er ist nun schon sechs Wochen alt, hatte J. geschrieben:
tausend traurige Tropenküsse
und über die fremden Straßen, durch die er läuft. Wie sehr er an die Wochen unwirklicher Nähe zwischen uns denkt und bei jeder
räudigen Katze, die er sieht, an meinen Kater, und noch viel mehr an mich. Jackson schreibt, du darfst nicht direkt an mich
schreiben, wegen V., es würde sie umbringen, und du bist stark.
Ich lese den Brief, weil es noch immer keinen neuen gibt, und erleide einen Rückfall.
Die neue Wohnung tröstet mich. Sie ist hell, klar, fast leer, ich habe ein paar Pflanzen, ein Bücherregal. Erst haben wir
den Schrank in das größere Zimmer gestellt, aber es gefiel mir nicht, zu voll, also schleppten Konrad und ich den Schrank
in das kleinere Zimmer, in dem der Schreibtisch steht, so dass es im großen nur die Matratze mit dem Holzkasten gibt, das
Bücherregal und der Sessel, den wir auf dem Sperrmüll gefunden haben, mit der Leselampe neben dem Ofen. So mag ich es, leer
und halb improvisiert. Robert kam dazu und brachte mir eine Bank für die Küche, die er selbst gezimmert hat, und eine Flasche
Wein, und dann saßen wir drei in der Küche, und ich merkte, dass die beiden befangen waren, aber ich war es nicht, und ich
redete und lachte und hörte überhaupt nicht mehr auf. Nach Mitternacht sind wir noch zur Mini-Pizza-Bude neben dem Eingang
zur S-Bahn Savignyplatz, und haben |164|
Schweinepizza
gegessen, so nennt Robert sie, keine Ahnung, weshalb. Der kleine dünne Sizilianer, der sie bäckt, steht in einem winzigen
Kabuff, er passt gerade mal hinein, zwischen den Ofen und die Arbeitsplatte am Fenster, das zugleich seine Durchreiche zur
Straße hin ist, auf der er den Teig knetet, ausrollt und belegt. Über ihm rattert regelmäßig die S-Bahn und
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