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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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begeistert von dieser Figur redeten,
     ununterbrochen, luzide, unglaublich luzide, und heute früh, als ich aufwachte, dachte ich, es ist besser, wenn ich das Studium
     abbreche und nicht mehr zu den Künstlern gehe und nicht ins Museum, weil ich dann immer an Jackson denken muss und es nicht
     will.
     
    Ich rief Heumann an und erzählte ihm alles, und er redete auf mich ein wie auf einen alten, störrischen Gaul, dass das nicht
     ginge, dass ich nicht kneifen sollte, dass Leute wie ich gebraucht würden, die so sehen können, die sich so aussetzen, weil
     die Kunst, ohne so gesehen zu werden, gar nicht leben kann. Und dass all diese Erfahrungen, die ich gerade mache, die beste
     Schule des Sehens wären.
    Und ich heulte die ganze Zeit, die Tränen liefen und liefen, unhörbar, und irgendwann legte ich ohne ein Wort zu sagen auf.
     
    Ich träumte von Silvies Großvater, weil ich meinen gar nicht kenne, er ging umher und gab allen eine wächserne Hand, sein
     Gesicht war bläulich, wie eine Maske, und dann war die Beerdigung und er lag nackt auf der Bahre und ich fragte mich die ganze
     Zeit, warum man ihn so nackt da hinlegte, das gehörte sich doch nicht, einen Toten so nackend hinzulegen und jeder starrt
     ihn an. Dann sah ich Papa, der mit einer riesigen Gartenschere auftauchte, und dann träumte ich von einer Flucht aus Berlin,
     das von den Alliierten reokkupiert werden sollte; wir sollten in schwarzer Kleidung fliehen, ich aber fand nur bunte Pullis,
     ein Soldat pfiff mich zu sich und sagte, wenn ich eine Tochter hätte, dann würde ich doch nicht wollen, dass sie so herumliefe
     – ich trat ihn und dann war es eine Tür, gegen die ich trat –
    |175|
    Ich habe die Nase voll. Ich glaube, ich muss bald mit Leonhardt schlafen, es mit Robert tun, einfach so, und vielleicht finde
     ich noch einen anderen oder am besten gleich sieben, für jeden Wochentag einen.
     
    Vielleicht ist alles nur ein Spiel. Ich kenne nur nicht seine Regeln.
    Vielleicht geht es nur darum, die Regeln zu begreifen.

|177| III.
Verbrennen
    |179| Wer nach zwanzig Jahren Lebenszeit behauptet, sich präzise an eine Unterhaltung zu erinnern, lügt. Wer behauptet, den Ablauf
     eines ganzen Geschehens genau beschreiben zu können, erfindet. Es ist nichts Schlechtes an der Erfindung, man muss es nur
     wissen, die Erfindung allein kann einem Ereignis so etwas wie einen Rahmen geben, einen Anfang und ein Ende. Das Leben geht
     immer weiter, und wann die Liebe beginnt, in Hass umzuschlagen, ist wohl selten ein einziger, festzulegender Moment. Ich jedenfalls
     denke so. Ich glaube auch, dass Hass leichter spricht als Liebe. Hass schützt. Hass ist für das Gefühl, was Ironie für den
     Stil ist. Eine Sicherheitsvorkehrung. Das war nicht immer so.
    Die Erinnerung legt also Momente fest. Immer? Nein. Und wozu? Um etwas für sich zu gewinnen. Intensitäten vielleicht. Klarheit.
     Etwas, das man noch nicht weiß. Mein Leben ist schließlich kein Fall, der rekonstruiert werden muss! Nein! Doch selbst in
     der Bearbeitung von Fällen setze ich immer neu an, wie jetzt, in meinem einsamen Zwiegespräch. Es ist ja ein alter Hut, dass
     Erinnerung ein Prozess des ständigen Umdeutens ist. Ein Kaleidoskop in Kinderhand: drehen, ein neues Bild, drehen, ein anderes,
     dabei sind es immer dieselben Farbplättchen. Ich aber muss viel mehr an ein
Verbrennen
denken. |180| Ich denke nicht an die Asche oder das Verschwinden, sondern an die Verwandlung, die im Feuer geschieht. Ein Prozess, der Energie
     verbraucht und freisetzt. Hitze. Schmerz und Lust. Wenn man eine Fotografie verbrennt und die Flammen sie von den Seiten her
     auffressen, verändern sich für einen kurzen Augenblick die Farben: Das Bild, das zerstört wird, gewinnt eine fast unwirkliche,
     unvergessliche Intensität.
    Wann immer ich jedenfalls später an Eva und Robert gedacht habe, trat mir immer wieder e i n bestimmtes Bild vor Augen: Sie
     kommen mir entgegen, in einer verschneiten Straße, ich weiß nicht mehr, wo, ihre Gesichter leuchten, ihre Wangen sind gerötet,
     es ist eisig kalt. Sie kommen mir entgegen, und als ich kurz vor ihnen stehe, sehe ich: Sie sind durch Handschellen miteinander
     verbunden. Ich zucke zusammen, denke, es ist ein Scherz, ich sehe sie fragend an, weiß nicht, ob ich es erwähnen soll oder
     ob ich so tun soll, als bemerkte ich es nicht. Eva tritt auf mich zu, Robert mit, sie küsst mich, er nickt, wir müssen weiter,
     sagt Robert,
sorry
, wir haben was vor, und weg

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