Naechte am Rande der inneren Stadt
ich musste zwei Stunden im Nieselregen anstehen und habe mir fast in die Hose gemacht.
Jemand sagte, dass an die
dreihunderttausend
Leute (!) die Ausstellung besucht hätten, der größte Publikumserfolg, den es je in der DDR gegeben hat. Bei Munch und Klee
in den beiden vergangenen Jahren in Dresden sollen es immerhin schon die Hälfte davon gewesen sein. Die Leute fahren kreuz
und quer durchs ganze Land, um Sachen zu sehen. Es gibt in einigen Museen, in Halle, Leipzig, einzelne Bilder von Expressionisten;
allerdings wohl nicht
die
zentralen Werke (das allein wäre für mich schon ein Grund auszuwandern); aber auch in dieser Ausstellung waren es auffallend
späte Arbeiten, und kein einziges meiner Lieblingsbilder. Obwohl es extrem voll war, standen einige Leute herum und zeichneten.
Ich hab fast geheult, als ich das sah. Der Katalog war ausverkauft; die Postkarten auch; man konnte die Bilder anders nicht
mitnehmen.
Eine Frau mit rotgefärbtem Haar und buntem Seidentuch, mit der ich beim Warten ins Gespräch kam (zuerst sehr schüchtern),
sagte, in Dresden wäre viel mehr los als in Berlin; die Künstler würden dort sehr wohl die Bilder der Brücke-Maler kennen;
und ich sollte bloß nicht glauben, dass sie nicht mit Objekten arbeiteten und mit
Performances
. Ich verstand sie nicht gleich, sie sagte
börwormenses
.
Sie bot mir Schokoladenkekse an, auf der Schachtel stand »Othello«, und etwas Tee aus ihrer Thermoskanne. Sie fragte, ob ich
Barlach mag. Ich wiegte das Haupt, geht so. Und welche Maler der DDR? Ich sagte Nuria Quevedo, das fand sie gut, sie nickte
zustimmend. Ich hätte auch nicht ehrlich behaupten können, dass ich Willi Sitte oder Bernhard Heisig |170| zu meinen Lieblingsmalern zählen würde, aber Otto Dix ist schließlich auch nicht mein Favorit; vielleicht liegt es an den
Kriegsthemen, Soldaten mit abgefetzten Beinen und Nutten mit Monsterbrüsten; bei Beuys kommt die Erfahrung des Kriegs mir
näher, obwohl oder weil sie viel vermittelter ist.– Und Sie? fragte ich. – Ich? Nojo, Mattheuer, Tübke, Angela Hampel. Kennen
Sie die? – Zum Teil, sagte ich. – Verstehe, sagte sie und grinste. Sie war wirklich
schau
, wie sie gesagt hätte. Echt nett.
Es herrschte eine Aufregung, wie ich sie noch nie in einem Museum erlebt habe. Ich war zum ersten Mal seit Monaten für ein
paar Stunden vollkommen glücklich. Am Abend lief ich zurück zum Bahnhof Friedrichstraße; ich hätte gern mit meiner neuen Bekannten
noch ein Bier getrunken, aber sie musste zurück nach Dresden.
***
Leonhardt und ich vermeiden es, zu ihm oder zu mir zu gehen. Leonhardt und ich sollen ein Referat halten, über Martin Kippenberger.
Noch vor zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen, am Institut für
Kunst geschichte
etwas über einen Zeitgenossen zu machen. Schrift ist ein Riesenthema, zur Zeit.
Leonhardt und ich treffen uns im »Café Berio« am Winterfeldtplatz und stecken die Köpfe zusammen, wir sitzen im »Ansbach«
in Schöneberg, oder in der »Wunder-Bar«, wir treffen uns am Nollendorfplatz und arbeiten, wir gehen nach Kreuzberg. Durch
die halbe Stadt bewegen wir uns und reden über Postmoderne und
Posthistoire
und was es bedeutet, wenn alles gleichzeitig ist, und ob das heißt, dass man dann keine Erinnerung mehr braucht.
Leonhardt zeigt mir den ›
Angelus Novus‹
von Paul Klee, eine Zeichnung, die Walter Benjamin liebte: Der Engel, der zurückblickt und zugleich nach vorn gezerrt wird.
Leonhardt sieht mich dabei bedeutungsvoll an.
|171| Er redet mit Händen und Füßen, so dass er selber aussieht wie ein Engel mit Flügeln. Er schiebt seine Brille hoch und runter
und sieht mir die ganze Zeit auf den Mund, und ich möchte mit ihm schlafen und mit Benno und mit Robert und noch vielen anderen,
um den einen loszuwerden, damit mein Körper ihn vergisst, seine rötlich braune Haut an meiner weißen, seine Senken und Mulden
und Wirbel aus Haar, die so weich unter meinen Fingerkuppen waren. Und manchmal möchte ich Heumann bitten, mich zu heiraten
und allem ein Ende zu setzen, aber er sagt, ich wäre die treuloseste Frau auf der Welt und so eine sollte er besser nicht
heiraten, denn das würde sein Unglück bedeuten. Ich bin anhänglich und dann verschwinde ich und manchmal denke ich an Mama,
die genauso war wie ich, und dann wird mir hundeelend und ich befehle mir:
HÖR AUF, AN SIE ZU DENKEN!
Ich träume von Briefen, die Jackson mir schreibt. Die ich nicht
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