Naechte am Rande der inneren Stadt
Pommes mit Gemüse und
Salat. Heumann sitzt sehr gerade, er isst wie ein possierliches Tier. Er sieht ein bisschen aus wie Peter Sellers, nur dass
sein dunkelblondes Haar schulterlang ist. Er ist an der holländischen Grenze groß geworden; seine Mutter hat sich in einen
ungarischen Offizier verliebt, der auf Seiten der Alliierten gekämpft hatte und deshalb am Niederrhein für eine Weile stationiert
war; er war im Leben seiner Mutter aufgetaucht und wieder verschwunden, und der kleine Heumann sah ihm wohl recht ähnlich.
Das hört sich an wie ausgedacht, sage ich. Das ist die reine Wahrheit, antwortet er. Er ist fünfzehn Jahre älter als ich,
und es ist, als käme er aus einer anderen Welt. Ich höre ihm gern zu; es beruhigt mich.
Der Minotaurus, sagt Heumann, halb Mann, halb Stier, zeigt seine Animalität, das macht ihn verletzlich. Wusstest du, dass
die
Anima
, die Seele, eigentlich das Tierhafte in uns bedeutet? Noch bei Hegel ist das so.
Nein, sage ich. Ich dachte, das Seelische wäre gerade nicht das Tierhafte.
Ja, sagt er, weil du es als geistiges Prinzip denkst, womöglich vernunfthaft, aber eigentlich war das gemeint, was besonders
lebendig ist. Und das Lebendige teilen wir mit dem Tier.
Die Frauen auf den Bildern weinen, sage ich.
Stimmt, sagt er, aber eine ersticht den Minotaurus.
Weint der Minotaurus auch einmal? frage ich.
Gute Frage, sagt Heumann und überlegt. Er nutzt die Gelegenheit, noch einen Wein zu bestellen. Ich glaube nicht, sagt er |241| schließlich. Nicht bei Picasso. Aber du bist gar nicht bei der Sache.
Er hat recht, ich bin nicht bei der Sache. Oder nur halb. Die Sache mit Robert beschäftigt mich nämlich ununterbrochen. Jetzt
denke ich über seine Männlichkeit nach. Einmal hat er gesagt: Ich bin gar nicht männlich. Konrad ist viel männlicher.
Ich war verblüfft; genau so hätte ich es nicht beschrieben. Was meinst du denn? fragte ich.
Konrad ist so zielbewusst; er weiß, was er im Leben will, es gibt Dinge, die ihn fesseln.
Wenn das männlich für dich ist, sagte ich, dann... weißt du das doch auch, oder?
Nein, sagte er. Das täuscht.
Weiß ich es? Wir haben eine neue Professorin, Sonja Ebiel, sie hat uns eine Liste mit den Namen von Künstlerinnen in die Hand
gedrückt, die wir kennen sollten. Die
männliche
Tradition, hat sie gesagt, schreibt eine eigene Kunstgeschichte. Wir wollen mal anfangen, die ein bisschen umzuschreiben.
Na, wie wär’s?
Wir haben sie mit echten Kinderaugen angeguckt. Sie trägt Stiefel bis über die Knie mit hohen Absätzen, hat wilde lange rot
und schwarz gefärbte Haare und eine Brille, die Vivienne Westwood entworfen hat. Auf der Liste des zwanzigsten Jahrhunderts
stehen (um nur einige zu nennen): Charlotte Salomon, Frida Kahlo, Louise Nevelson, Louise Bourgeois, Dorothea Tanning, Eva
Hesse, Maria Lassnig, Hanne Darboven, Rosemarie Trockel.
Überall geht es um
gender
, Geschlechter, doch ich hab kapiert: Theorie ist eins, meine Gefühle etwas anderes. Aber die Liste mit den Künstlerinnen
finde ich gut. Sehr gut sogar. Ich hänge gleich noch welche dran.
|242| Heumann brachte mich nach Hause,
es sind ja nur ein paar Straßen
,
ich begleite dich gern
. Wir liefen die Kantstraße hoch. Ich dachte daran, wie schön es wäre, jetzt zu einem ins Bett zu kriechen, der sich über
mich freuen würde. Ich zwang mich, den Wunsch wegzuschieben. Ich würde allein schlafen. Die Nacht war mild; es waren noch
viele Leute unterwegs; es war schön leise, weil nicht mehr so viele Autos fuhren. Ich drehte mich um, zurück zum Bahnhof Zoo;
ich mag den Blick auf das Hochhaus, auf dem sich der angestrahlte Mercedesstern dreht. Mercedes hin oder her: Dieser Stern
unter dem blauen Himmel, der nie ganz dunkel ist, hat so etwas – Federleichtes. Heumann lief still neben mir her. Plötzlich
fiel mir ein, dass ich ihn am Nachmittag am Zoo direkt vor dem Beate-Uhse-Laden getroffen hatte. Verdutzt bleibe ich stehn.
Was hast du? fragt er.
Ich laufe weiter, druckse herum.
Ich, stottere ich, musste gerade daran denken –
Was denn?
Er sieht mich freundlich an. Nein, das konnte nicht sein.
Ach nichts, sage ich, ich bin nur von unserem Gespräch verwirrt.
Es war schön, dich zu sehen, sagt er beim Abschied. Du bist ja in letzter Zeit wie vom Erdboden verschluckt. Pass auf dich
auf. Lass uns mal wieder zu Hölt gehen. Er hat richtigen Erfolg.
Tatsächlich? frage ich, dankbar, dass ich vom Thema wegkomme.
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