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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Tränen in mir aufsteigen und nicht fließen können. Sein blasses Gesicht, die Bartstoppeln; die
     sanften Augen. Mein Kopf will mir zerspringen; ich will mit ihm schlafen und ihm nah sein und alles andere vergessen. Kein
     Wort über Mathilda.
    Er wird mich töten, denke ich plötzlich, ich spüre es.
    Ich bin willenlos in diesem Ihm-nah-sein-Wollen, ich war darin so aufgehoben, ich will nicht daraus verstoßen werden. Ich
     glaube, ich habe mich niemals zuvor dorthin gewagt, wo es sich so anfühlt. Ich versuche, mit ihm zu sprechen.
    Ich kriege mich nicht in die Sprache, sagt er und sieht mich mit seinen traurigen braunen Augen an.
Er hatte die Achtung vor sich selbst verloren
, zitiert er,
und damit fängt alles Unheil zwischen den Menschen an
. Wieder dieser blöde Ernst Jünger.
    Vielleicht liest du besser mal was anderes, sage ich.
    Der Typ sagt die Wahrheit, sagt Robert.
    |238| Was denn für eine Wahrheit um Himmels willen? Was quält dich denn?
    Meine Liebe zu dir, sagt er.
     
    Ich stehe auf und laufe aus seiner Wohnung. Ich renne die Treppen runter, durch den Hof zu mir. Der Weg ist so kurz und dauert
     ewig! Mein Herz schlägt überall. Er rennt mir hinterher, wir küssen uns noch in der Tür, wir fallen übereinander her, ich
     will sterben, aber dieses Mal ist es nichts Schönes, kein Glück.
     
    Plötzlich höre ich Vögel singen, in meinem Ohr, obwohl er gar nicht da ist, und ich schreibe einen Zettel:
Ich habe Sehnsucht nach dir und ich möchte weinen.
    Es ist der verfluchte Übergang von der leidenschaftlichen Verliebtheit am Anfang zum normalen Leben.
Schreibt er. Und:
Wenn du dich rar machst und mir vertraust, wird es gehen.
     
    Dieses Mal renne ich zu Nora und zeige ihr den Zettel.
    Ich hab es dir ja gesagt. – Sie rollt sich eine Zigarette. – Er will damit sagen, dass er dich nur begehren kann, wenn du
     dich ihm wieder entziehst, und dass dies auf einem anderen Blatt steht als seine Liebe zu dir, die dich immerzu will, nah
     will. Du kannst sagen: typisch männlich, typisch weiblich, ich würde sagen: Es hat ihn erwischt und er kommt nicht zurecht.
    Was soll ich tun? frage ich.
    Gar nichts, sagt Nora und zündet sich die Zigarette an.
     
    Ich komme nach Hause, er wartet auf mich. Er sieht mich an und unsere Fasern verschlingen sich. Missstimmung weicht, wie eine
     Erinnerung verschwindet; Gewissheit bleibt: deine Haut, meine Haut, du, nur du, und wir lächeln uns an.
    Wir sind anders, sagt er, wir schaffen das.
    Ich will es so sehr. Ich schlafe ein in seinem Arm.

|239| 11 (Ensemble: Minotaurus und Strickbilder oder Rätsel der Anziehung)
    Die erotische Liebe ist ein Labyrinth.
    Es ist Mai, Robert und ich verbringen die Nächte miteinander, die Nächte sind groß, freizügig, wir überwinden Grenzen, wir
     sehen uns an dabei, komm, noch ein bisschen weiter, wir atmen nicht, wir keuchen, wir frühstücken zusammen, obwohl ich es
     hasse, am Morgen mit jemandem Banalitäten auszutauschen. Wir verabreden uns in der Mensa der Technischen Universität, wenn
     ich nicht an der Hochschule bin oder zu Hause lese, wir gehen ins Kino. Robert hat sich die Woche durchstrukturiert, neben
     seinem Stundenplan hat er genaue Zeiten festgelegt, wann er was macht. Lernen, Fahrrad fahren, mich sehen. Manchmal braucht
     Robert einen Abend für sich, er lernt bis um eins und kommt dann zu mir in die Wohnung. Unsere Küsse sind tief. Manchmal lacht
     Robert sogar oder legt auf der Straße den Arm um mich.
    Wir halten den Ball flach. Wie zwei Spieler, die sich vor dem nächsten großen
match
eine Pause gönnen.
     
    So oder so. Ich kann frei atmen und mich auf meine Arbeit konzentrieren, zum Beispiel die Minotaurusdarstellungen von Picasso,
     im Seminar bei Heumann. Gestern lief ich ihm am Bahnhof Zoo über den Weg.
    Weshalb kommst du nicht mal wieder mit in ein Atelier? fragt er.
    Ich weiß nicht, sage ich.
    Wir gehen ins »Schwarze Café«, er hat das Buch mit den Abbildungen bei sich; wir sehen uns die Picassos an und trinken ein
     Glas Weißwein. Es ist nachmittags, fünf vorbei. Der Minotaurus: Halb weicher Mann, halb geiler Bock. Das |240| Monster muss gefüttert werden. Die Sucht ist am größten, wo sie die Sehnsucht nicht erfüllt. Ariadne hilft Theseus aus dem
     Labyrinth mit ihrem Faden; Picasso konzentriert sich auf Gewalt und Geschlecht. Das zerrissene Halbwesen; die Frauen, die
     weinen.
    Heumann lädt mich zum Essen ein; wir gehen in die »Paris Bar«. Er bestellt Steak mit Pommes, ich nehme

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