Naechte am Rande der inneren Stadt
aber die Gefühle der
Scham nicht.
Ich muss in die Bibliothek. Ich muss meine Hausarbeit über Rodin schreiben, die Idee des Unvollendeten (der Unvollkommenheit
als Verweis auf eine höhere Vollkommenheit) in seinem Frühwerk. Ich muss viel arbeiten. Ich suche mir wieder einen Job als
Modell, Papas Geld ist ein bisschen knapp. Wir gehen so viel ins Kino in letzter Zeit... Wenn du mehr brauchst, hat Papa gesagt,
musst du zusehen, woher du es kriegst. Da brauche ich nicht noch einmal zu fragen. Ich finde ihn großzügig genug; er hat mir
den Aufenthalt in Paris finanziert, nur das Zimmer habe ich bezahlt: mit Putzen. Das war in Ordnung. Und er hat mir versprochen,
mir London zu bezahlen, falls
Sothebyś
mich nimmt. Bis dahin muss ich noch einiges tun.
9 (Ensemble: Verletzlicher Frühling)
Nichts ist schwieriger als die Liebe.
Robert hat mir dieses Zitat aus einer Zeitung ausgeschnitten und unter der Tür durchgeschoben.
Ich komme nicht mehr hinterher, alles aufzuschreiben. Tiefes Glück wechselt mit völliger Entfernung. Aufwachen, lächeln, sich
berühren. Das Schwierige ist häufiger Anlass zu schreiben als das Schöne.
|233| Robert erzählt von einer Frau, mit der er körperliche Leidenschaft erlebte, aber keine Liebe.
Nora? frage ich.
Er schweigt.
Also Nora.
10 (Ensemble: Odaliske & Geheimnis)
Nora: ihr Lächeln; ihr langer Zopf; wie sie im Schneidersitz am Boden sitzt und Geschichten erzählt. Sie erzählt von ihren
Prüfungsängsten, von ihrem strengen Vater, ihrer Kette rauchenden Mutter. Ihrer Panik, wenn ihr ein Mann
durch den Gemüsegarten latscht
. Manchmal ahne ich etwas von ihren schwierigen Seiten. Ein falsches Wort und sie verschließt sich. Ich muss sie in ihrer
stolzen Ecke abholen, ich tu es sofort, es fällt mir nicht schwer, dann lacht sie.
In Roberts Familie ist alles düster; geheimnisumwoben; sonderbar. Wir treffen uns in der Wohnung seiner Eltern mit Konrad,
Oliver und Harro, die die Eltern natürlich alle aus ihrer Schulzeit kennen. Konrad schämt sich; Roberts Mutter denkt, ich
bin noch immer
seine
Freundin. Robert sagt kein Wort, ich auch nicht. Wieso auch? Ich hake mich bei Konrad ein und fühle seine Wärme durch die
Jacke hindurch.
Die Wohnung ist im Stil der siebziger Jahre eingerichtet, dazwischen schwere altdeutsche Möbel; in Roberts ehemaligem Zimmer
klebt noch die psychedelische lila Tapete an den Wänden, mit Kreisen, von denen mir schwindelig wird (Ornamente!?). So etwas
gab es bei uns nicht. Bei uns zu Hause waren alle Wände weiß. Roberts Mutter ist freundlich zu uns allen und bietet uns belegte
Brote und Limonade an. Sie fragt, ob wir lieber ein Bier wollen. Wir sagen
nein, nein
und kichern |234| mit vollem Mund. Wir sind alle sehr artig. Sie trägt ihr Haar wie eine Kappe, die eng am Kopf anliegt; ihre Züge wirken wie
eingeklemmt, die Lider etwas verquollen, traurig. Robert sagt, sie hat oft Migräne und nimmt Tabletten. Sie liest Bücher über
Konzentrationslager, und sie sammelt Mineralien. Tatsächlich liegen überall Halbedelsteine, auf den Fensterbänken, in den
Regalen; es gibt viele Kerzenleuchter. Ich muss daran denken, dass Robert sie nie nackt gesehen hat.
Vor allem sein Bruder ist mir unheimlich; er hat eine eigenartige Macht über ihn. Er ist außerdem hässlich; mich stört Hässlichkeit
gar nicht, ich meine aber so eine charakterliche Hässlichkeit, so etwas ekelhaft Selbstzufriedenes, das stößt mich ab. Er
baut sich eine eigene Firma auf. Nach dem Besuch bei seiner Familie war Robert deutlich mies gelaunt.
In der Nacht träumte ich von einem düsteren, patriarchalischen Schloss (ich nannte es so im Traum:
patriarchalisch
!); ich war in einer Dusche und Blut lief an mir herunter, spritzte überall hin.
Ich schlafe mit R. und höre die Vögel weiß singen, das Rückgrat hinauf bis zur Hirnrinde, wir halten einen Abstand und sehen
uns dabei an; er liegt unter mir und vergisst mich, zugleich weiß ich, dass ich der Anlass für dieses Vergessen bin. Ich fühle
mich sicher und frei.
Süße Gespräche – Lachen – wie aus einem Mund, zittern, und dann dieses Ruhig-Sein, friedlich – in deinem Gesicht, in meinem Gesicht: Linien
nachzeichnen, mit den Fingern, gar kein
Ich-will-dir-etwas-erzählen
, sondern nur dieses
Ich-will-deine-Nähe-fühlen
, und wenn ich sie fühle, ist alles gut – tröstet, wenn dies ein Trost sein soll –
Und dann: Robert verschwindet, ins Lernen, ins
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