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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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nächsten immer sinistrer vorkommen, scheinen durch lange Übung und intimste Kenntnis des Waldes kein Licht zu benötigen, das ihnen den Pfad zeigen müßte, den sie zwischen den dichtwachsenden Stämmen herausgehauen hatten, und sie sprachen weder miteinander noch mit uns. Hie und da roch ich ein wenig von denen, die mich weiterschleiften, und sie stanken wie die Hölle, muß ich sagen.
    Da ich nun bei Bewußtsein war, der Länge nach auf der holpernden Rutsche ausgestreckt, schlug ich auf ihre Hintern ein, bis sie mich aufstehen ließen, und da kam auch die Lizzie, und ich gab ihr einen Kuß auf den Teil ihrer Anatomie, den ich gerade erreichen konnte - ihre Nase, wie sich herausstellte.
    »Bist du jetzt zufrieden, so zu Fuß?« begrüßte sie mich, die alte Hexe. »Findest diese Art der Fortbewegung vielleicht der Landschaft angemessener?«
    Wenn ich nun Liz eine »Hexe« nenne, muß man das cum grano salis nehmen, denn ich bin ein vernünftiger Mensch und - was noch schwerer wiegt - habe ihre eigene Rationalität mit der Muttermilch eingesogen, und man könnte sagen, daß ihr ein Übermaß an Rationalität ihren nicht unverdienten Ruf verschafft hat, denn wenn sie zwei und zwei zusammenzählt, kommt manchmal fünf heraus, weil sie schneller denkt als die meisten. Wie vereinbart sie ihren politischen Standpunkt mit ihrem magischen Tralala? Frag mich nicht! Frag diese ihre Familie von anarchistischen Bombenbastlern! Wer hat bei Jennys Hochzeit die Bombe in die bombe surprise praktiziert? Hat unser Gianni im Handumdrehen gemacht, trotz seiner schwachen Lunge; und wer würde je nach Terroristen in einer Eisdiele suchen, noch dazu unter so süßen Kinderchen?
    Und in eben diesem Augenblick fragen vielleicht die Kinderchen in Battersea: »Wo ist jetzt unsere Tante Liz? Wo ist Fevvers?« Aber die Frage können nicht einmal Liz und Fevvers selber beantworten! Und wie ich an die Kinder denke, da greife ich nach meinen Glücksveilchen, die mir Violetta zu Weihnachten geschenkt hat letztes Jahr, und natürlich sind sie nicht da, sie sind mir irgendwo in Sibirien abgefallen.
    Da sie ein leises Aufschluchzen von mir hört, fragt Liz flüsternd: »Wie geht’s dem gebrochenen Flügel?«
    »Schlimm genug.«
    Sie drückt meine Hand.
    »Und jetzt hab ich noch meine Glücksveilchen verloren«, setze ich hinzu. Sie läßt meine Hand abrupt los: Sie haßt Sentimentalitäten.
    »Scheiß auf deine Glücksveilchen, wo immer sie sein mögen«, sagt sie. »Mach dich aufs Schlimmste gefaßt, Mädchen, wir haben ja die verdammte Uhr verloren. Wahrscheinlich zu Asche verbrannt dort hinten. Erst dein Schwert, jetzt meine Uhr. Wir haben bald keine klare Vorstellung mehr von der Zeit, und was wird dann aus uns? Nelsons Uhr. Futsch. Und das ist noch nicht alles. Meine Handtasche. Die ist auch weg.«
    Dies war eine Katastrophe von solchem Ausmaß, daß ich mich kaum getraue, an die schlimmen Folgen für uns zu denken.
    Weiter gingen wir, tiefer und tiefer in das Unbekannte hinein, das gleichzeitig ein wachsendes klaustrophobisches Gefühl in uns auslöste: weil die Bäume uns einschlossen; und anderseits ein Gefühl der Platzangst, weil die Bäume eine so riesige Fläche füllten. Wir schleiften unsere zunehmend müden Füße hinter uns her, alles öde und unbegreiflich wie ein verregneter Sonntag, bis wir an eine Lichtung voll dreckigem Schnee kamen, wo hinter einer Palisade alle möglichen rasch errichteten Wohnungen standen - manche wie Wigwams aus Tierfellen, manche wie Zelte von Soldaten und dann ein paar Hütten aus rohem, grob zugehauenem Holz, die alle Merkmale eiligster Errichtung trugen; die Ritzen waren mit Erde verstopft. Ich konnte alles beim Licht zischender und spuckender Kienspäne sehen, die unsere Entführer nun entzündeten, und mein Verdacht, daß keine Frauen unter ihnen lebten, fand sich bestätigt. Ich kann nicht sagen, daß dies mein Vertrauen in unsere Gastgeber vermehrt hätte.
    Sie alle drängten sich vor allem um mich, starrten nur mich an und murmelten und riefen dabei, aber für die Prinzessin oder Mignon hatten sie keinen Blick übrig. Anscheinend war ich ein ganz besonders exklusiver Teil der Speisekarte, obwohl ich die Decke fest um mich gewickelt hielt, kann ich euch sagen.
    Aber sie behandelten uns ganz freundlich. Sie gaben uns heißen Tee und starken Schnaps und kalten Braten, Elch, glaube ich, aber ich konnte nichts essen. Törichtes Weinen überwältigte mich beim Anblick des Essens, und Liz sagte, das sei

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