Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
Vom Netzwerk:
werden. Dann blendete uns der Schnee, und Samson hob uns eins ums andere hoch und warf uns in den Schuppen hinein und lehnte sich dann innen gegen die Tür, um sie mit seinen mächtigen Schultern vor dem Sturm geschlossen zu halten.
    Wenn auch Flintenkugeln durch die Wände krachten und der Wind durch die Astlöcher pfiff und Funken aus dem Feuer sog und sie umherwirbelte, daß wir dachten, wir müßten mitten in Schnee und Eis verbrennen, hielt der Schuppen stand. Er schwankte nach einer Seite, dann auf die andere, und es schien, als müßte jeden Moment das Dach davonfliegen, doch unsere kleine Gruppe, die wir, zwar ohne wirklichen logischen Zusammenhang, doch unser Vertrauen in die Vernunft setzten, wurden nicht der schlimmsten Wut des Sturms ausgesetzt. Der Flüchtling jedoch wurde angesichts dieses Aufstands des militanten Pessimismus bleich und murmelte tröstende Sätze aus Kropotkin und so weiter vor sich hin, wie jemand anders in solcher Lage den Rosenkranz gebetet haben mochte.
    Als der Sturm sich verzog - denn endlich klang er dann ab -, machte der frischgefallene Schnee alles neu und löschte das Lagerfeuer. Hier lag ein Fetzen scharlachner Seide und dort Griks kleine Geige mit zerrissenen Saiten, doch von den Zelten, Hütten, Musketen und Säbeln der Banditen, von den Clowns und den Banditen selbst war nichts zu sehen, als hätte sie der Sturm vom Antlitz der Erde geblasen.
    Doch ein armer Hund ist zurückgeblieben. Der Wirbelwind hat ihn wohl fallen lassen, armes Ding. Ein junger Mischling mit einer Quaste am Schwanz; winselnd läuft er im Kreis.
    Und ich hoffe, daß der Wind den Banditenhäuptling in sein eigenes Dorf zurückgeweht hat, wo der Pflug auf seine Hand wartet, das geschwellte Euter der Kuh seine Finger herbeisehnt, wo die braune Henne gackert, daß er die unbeachtet gebliebenen Eier sammeln soll, und wo alles sei, wie es gewesen war - das Zuhause des Wunschtraums, reicher durch die Zeit in der Ferne. Doch wo die Clowns hin waren, wußte ich nicht. Feierten wohl ihr Wiedersehen mit George Buffins im Großen Irrenhaus im Himmel.
    Lizzie versucht nicht, sich dafür zu entschuldigen, daß sie ungewollt dieses Ende herbeigeführt hat. Sie zuckt die Achseln, bemerkt: »Die sind wir los«, zieht sich aus und zieht dann eins von den Bärenfellen an, aus denen sie für uns alle Jacken und Hosen genäht hat. Mit ihrem Schnurrbart und dem braunen Gesicht und der Fellmütze, die sie sich gemacht hat, damit ihr die Ohren warm bleiben, sieht sie selber aus wie ein kleiner Bär.
    »Zu Fuß gehn ist gesund«, sagt sie. »Los.«
    Obwohl der sturmzerzauste Schuppen noch steht, hat keiner von uns Überlebenden große Lust, an diesem Unheilsort zu bleiben. Wir werden kühn ausschreiten und uns selbst retten. Wir legen die Erzeugnisse von Lizzies schneiderischer Improvisation an, die uns unterwegs warm halten sollen, und machen uns in der Richtung davon, wo - wie der Flüchtling annimmt - die Bahnlinie verläuft. Nach einigem Nachdenken hat er eingewilligt, als Führer mit uns zu kommen; der Colonel hat ihn mit extravaganten Versprechungen bezüglich eines amerikanischen Passes überhäuft, und dieser junge Mann hat ganz das Gesicht eines Menschen, der die wunderschönen Versprechen der Freiheitsstatue für bare Münze nimmt.
    Die anderen sind erstaunt über das, was geschehen ist, doch Liz und ich wissen nur, daß die Clowns das Chaos angerufen haben und daß das Chaos, stets in allen menschlichen Angelegenheiten implizit, seinem Stichwort gefolgt ist. Aber der Flüchtling ist immer noch sehr beunruhigt, was dieser Vorfall wohl bedeuten mag, und versucht, mich in ein Gespräch darüber zu verwickeln.
    »Hören Sie mal, Süßer«, sag ich schließlich zu ihm, weil mir der Sinn gerade nicht nach einer ästhetischen Diskussion steht, »wenn ich mir bei dem Zugunglück nicht einen Flügel gebrochen hätte, könnte ich uns alle wie nix nach Wladiwostok fliegen, insofern dürfen Sie nicht mich fragen, wenn es darum geht, was wirklich ist oder nicht. Ich bin wie das Schnabeltier, die eine Hälfte der Leute im Zoo glaubt nicht, was sie da sehen, die andere glaubt, sie bilden sich’s bloß ein.«
    Das ließ ihn verstummen.
    Es freut mich zu sehen, daß der Colonel den Verlust seiner Clowns nach allem leicht nimmt, wahrscheinlich entwirft er im Geiste schon die Interviews, die er der Presse geben wird: »Clowns vom Schneesturm verweht! Augenzeugenbericht des berühmten Zirkusdirektors.« Aber andere sind weniger zäh.

Weitere Kostenlose Bücher