Nächte im Zirkus
Mignon klammert sich fest an die Hand der Prinzessin, doch deren Augen sind leer.
»Wenn wir dem Mädchen da nicht bald ein Klavier besorgen, geht’s böse aus«, sag ich zu Liz.
Samson hüllt sie in Felle ein und trägt sie, und Mignon läuft hinterher. So verlassen wir das Banditenlager oder das, was davon blieb, und der letzte kleine Clownshund kommt mit uns, er will wohl nicht allein zurückbleiben. Und was mich traurig stimmt: etwas weiter finde ich auf dem windverwehten Schnee die eine Feder, die purpurne Feder, die mir der Feuerjunge gestohlen hat, die aus seiner Jacke gefallen sein muß, als der Wind ihn davonriß.
Und so begannen unsere Wanderungen wieder, als wäre dieses Leben uns zu unserer zweiten Natur geworden. So jung ich bin, mein Leben war recht pikaresk; wird das nie enden? Ist das meine Bestimmung, eine Art weiblicher Don Quichote, mit Liz als Sancho Pansa? Und was ist dann mit dem jungen Amerikaner? Wird er sich als meine wunderschöne Illusion herausstellen, die Dulcinea jener Sentimentalität, die mir Liz immer zum Vorwurf macht und welche ihr zufolge nur die Kehrseite meines Vergnügens an barem Geld darstellt?
Latsch du nur immer weiter, Mädchen, und laß die Ereignisse selbst entscheiden.
Doch obwohl wir lange und weit gingen, blieben wir im Wald und schienen der Bahnlinie nicht näher zu kommen, und der Flüchtling setzt eine besorgte Miene auf. Hat er einmal die falsche Abzweigung genommen, hier draußen, wo es keine Abzweigungen gibt? Oder besser gesagt, hier in dieser spurenlosen Ödnis steht man an jedem Punkt an einer imaginären Kreuzung, am Zusammenstrom aller Richtungen, von denen vielleicht keine die richtige ist. Und weiter geht’s, damit wir nicht an der Stelle festfrieren, wo wir innehalten.
Dann werden die Bäume spärlicher, und der Wald endet, und der Flüchtling ist höchst überrascht und verlegen, denn wir stehen am Ufer eines breiten zugefrorenen Flusses, den er überhaupt nicht in Betracht gezogen hat. Doch auf der anderen Seite des Flusses steht ein kleines Haus von jener höchst unpassenden Bauweise mit reichlichen gezackten Holzornamenten, die die Russen hierzulande bevorzugen, und der Flüchtling meint, das müsse wegen seiner einsamen Lage das Haus eines ebenfalls Verbannten sein, der uns willkommen heißen würde. So gleiten und stolpern wir über den Fluß, verfolgt von kleinen vor dem Wind treibenden Strudeln und Wirbeln aus lockerem Schnee, die wie Schlechtwetterdämonen um uns fahren, und dann gehen wir wohlerzogen zur Vordertür, als machten wir einen höflichen Besuch in Belgravia.
An der Hauswand neben der Tür ist ein Brett mit der kyrillischen Aufschrift »Konservatorium von Transbaikalien« angenagelt. Es folgt ein Name, mit verschiedenen Abkürzungen danach. Doch das Schild ist so moosüberwuchert und alt, daß der Name unleserlich ist; es sieht aus, als habe es schon einige Jahrzehnte lang erfolglos um Schüler geworben.
Der Flüchtling klopfte an die Tür. Nichts rührte sich. Kein Licht schien drinnen, kein Rauch stieg aus dem Kamin. Er klopfte noch einmal, und dann stießen wir die Tür auf, um innen zwar in der Tat dem Gestank menschlicher Behausung zu begegnen, doch zumindest im ersten Zimmer sonst keinem anderen Anzeichen. Das Haus selbst war aus Kiefernholz; als Boden gab es nur eine tiefe Schicht Fischgräten, die wie Elfenbein glänzten und uns sagten, daß der Bewohner dieses traurigen Ortes hauptsächlich Fisch aus dem Fluß aß.
Im nächsten Raum ein Ofen mit den kalten Resten eines Feuers und eine Öllampe, die nicht brannte. Der Colonel tauchte seinen Finger hinein, entdeckte, daß sie mit Fischtran gefüllt war, und erbat sich sogleich eine Dosis für Sybil, deren Haut ihren Glanz und ihre Geschmeidigkeit ohne die tägliche Massage zu verlieren drohte, so daß sie mehr und mehr wie eine Aktenmappe aussah. Liz ließ ihn ein wenig auf eine seiner kleinen Flaggen träufeln. Sogleich hockte er sich hin und wienerte los, als wäre sie kein Schwein, sondern Aladins Wunderlampe. Was für ein Aroma! Puh.
Ich sollte erwähnen, daß der Raum möbliert war - grob und spärlich, mit ein paar Stühlen und einem Tisch, deren rote Plüschbezüge trotz ihres Schimmels in rührender Weise auf einstige Geschmacksansprüche hindeuteten. An der Wand eine Daguerreotypie eines jungen Mannes, der neben einem Palmenkübel und einem Flügel steht. Und mehr noch: ein Stich, vielleicht sogar alt, der einen Knaben mit einer gepuderten Perücke zeigt,
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