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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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der Fingergelenke, suchte er sich die Töne für diese Melodie zusammen, wieder, noch einmal, und die Mißtöne machten keinen Unterschied, weil es ja klingen sollte, als wäre es ein verstimmter Leierkasten.
    »Sollte natürlich eigentlich ein Bariton singen.«
    Ich hatte noch nie die Prinzessin auch nur »Guten Morgen« sagen hören, so daß es ein Schock war, das echte, rauhe Französisch aus Marseille und - wie man sich hätte denken können - die tiefe Stimme, wie ein Knurren. »Verdammte Kacke«, sagte sie. »Dieses Klavier braucht ’nen Schraubenzieher.«
    Glücklicherweise erinnerte sich der alte Mann nach einigem Nachdenken an ein wenig eingerostetes Französisch und versuchte es damit, und wir verließen die drei, wie sie sich glücklich über die beste Methode stritten, ein Klavier auseinanderzunehmen, und so weiter. Man konnte wegen des dichten Barthaars keine Veränderung im Gesichtsausdruck des alten Mannes ausmachen, aber er schien alles hinzunehmen, ohne mit der Wimper zu zucken.
    In seinem Speiseschrank war nur ein kleines Stück geräuchertes Fleisch (Elch, nehme ich an) und eine halbgefrorene Ratte, letztere - denke ich doch - eher das zufällige Opfer eines privaten Unglücksfalls als ein regulärer Bestandteil des Küchenzettels. Als wir die Speisekammer so kahl vorfanden, kam es zu einer häßlichen Auseinandersetzung zwischen dem Colonel und dem Flüchtling, Sybil betreffend, die auf den einen den Eindruck eines guten Abendessens machte, für den anderen aber unter den Schutz des Tabus fiel, das die Schlachtung geliebter Tiere untersagt. Trotz dieses Tabus wäre Sybil vielleicht dem Hunger des Feuerjungen nur entkommen, um dem demokratisch organisierten Appetit ihrer Freunde zu erliegen, denn schließlich sagte der Flüchtling: »Stimmen wir ab.«
    So gern ich das kleine Schwein hatte, war doch seit meinem unterbrochenen Frühstück kein Bissen über meine Lippen gekommen, und größere Liebe hat kein Schwein, denn daß es sein Leben gebe für seine Freunde... Sybil wußte, daß etwas im Busch war, wenn auch ihr prophetisches Talent nicht ausreichte, es ihr genauer klarzumachen. Sie grub sich schutzsuchend tief unter die Weste des Colonels, wo sie zitterte wie ein unruhiger Schmerbauch.
    »Eßt mich, eh ihr sie eßt!« rief der Colonel. »Bereitet euch ein Langschwein zum Abendessen, ehe ihr mein Schwein verzehrt! Kannibalen!« Doch der Flüchtling ignorierte emotionale Erpressungsversuche.
    »Alle, die für Schweinbraten sind, Hand hoch!«
    Eben als er, Liz, ich und Samson eine zögernde Majorität bildeten, lenkte der Clownshund, der uns bis hierher gefolgt war, törichterweise die Aufmerksamkeit auf sich, indem er an der Tür jaulte und hinausgelassen werden wollte - vielleicht um zu entkommen, aber wir kamen dem zuvor und aßen ihn an Sybils Statt, kochten ihn in geschmolzenem Schnee, weil er zu zäh zum Braten war, so daß es auch etwas Brühe gab. Fido oder Bonzo oder wie er geheißen haben mochte reichte unter uns sieben nicht weit, aber er vertrieb den schlimmsten Hunger, so daß dieser letzte Überrest der gigantischen Nutzlosigkeit der Clowns doch noch am Ende zu etwas nutze war. Und am nächsten Morgen - oder besser gegen Mittag, denn der Tag bricht zögerlich an im Winter dieser Breiten - riß sich der verrückte alte Mann lang genug aus dem Musikzimmer los, um uns Nicht-Musiker zum Fluß hinunter mitzunehmen und uns zu zeigen, wo er immer fischte. So verbesserte sich die Ernährungssituation ein wenig.
    Die Kleider des alten Herrn waren zwar völlig angemessen für das Podium eines Konzertsaals, wirkten aber mitten im Nirgendwo etwas deplaciert, besonders da er außerhalb des Hauses einen Zylinder trug, der oben vielfältig geknickt war. Aber er wußte, was er tat. Er ließ die Angelrute stehn und nahm ein großes Messer mit, und damit ging er folgendermaßen zu Werk: Er kniete sich auf das feste, tief reichende Eis, schnitt einen Block heraus und hielt ihn in die Höhe, ob ein Fisch darin zu sehen war. Beim dritten Mal hatte er Glück: Er hatte einen halbgefrorenen Karpfen herausgeschnitten. Dann griffen wir alle zu und trugen genügend fürs Frühstück nach Hause, obwohl das Eis sehr schwer war.
    Lange ehe wir an der Haustür angekommen waren, hörten wir es. Klang breitet sich weit aus in der leeren Luft, und möglicherweise verbesserten die hölzernen Wände des kleinen Hauses wie ein Hallraum den Ton des Flügels und verstärkten seinen Klang. Jedenfalls: glockenrein. Sie

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