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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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um kleinere Haushaltsgegenstände wieder aufzuspüren, die man verlegt hatte, so waren dies frivole Ablenkungen von der hauptsächlichen, dringenden, schwierigen Aufgabe, die vor ihm lag: die Interpretation der sichtbaren Welt um ihn herum durch die Informationen, die er durch seine Träume erhielt. Wenn er schlief - was er sehr häufig tat -, dann hätte er, wäre er des Schreibens mächtig gewesen, ein Schild an die Tür gehängt: Nicht stören/Hier wird gearbeitet.
    Und sogar wenn seine Augen offen waren, hätte man sagen können, der Schamane »lebe in einem Traum«. Doch das taten sie alle. Sie hatten Teil an einem gemeinsamen Traum, der ihre Welt war, und man sollte es besser eine »Idee« nennen als einen »Traum«, da es ihre gesamte Empfindung gelebter Wirklichkeit umfaßte, die nur zufällig mit realer Wirklichkeit in Berührung kam.
    Diese Welt - dieser Traum, diese geträumte Idee oder eingefleischte Überzeugung - erstreckte sich nach oben in die Himmel und nach unten in die Eingeweide der Erde und in die Tiefe der Seen und Flüsse, mit all deren Bewohnern sie intimen Umgang pflegten. Aber sie hatte keine horizontale Ausdehnung. Sie konnten keine andere Interpretation der Welt, des Traums, die nicht ihre eigene war, in Betracht ziehen. Ihr Traum war vollkommen abgesichert. Ein geschlossenes System. Narrensicher, weil es ein geschlossenes System war. Die Kosmogonie des Schamanen war trotz all ihrer komplexen Formen, Impulse und ständig verschwimmender Seinsweisen, begrenzt, weil sie eben eine menschliche Erfindung war und nichts von der Unwahrscheinlichkeit realer Geschichte hatte. Und »Geschichte« war eine Vorstellung, mit der sie vollkommen unvertraut waren, wie auch mit jeder Form von Geographie, die mystisch-vierdimensionale ausgeschlossen, die sie sich selber erfanden.
    Sie wußten um den Raum, den sie sahen. Sie glaubten an einen Raum, den sie wahrnahmen. Zwischen Wissen und Glauben war kein Platz für Vermutung oder Zweifel. Sie waren gleichzeitig unglaublich pragmatisch und, intellektuell gesprochen, ständig in wilder Ekstase.
    Bis sie auf den russischen Pelzhändler trafen, der vor einem Jahrhundert eine Gonorrhöinfektion in den Stamm eingebracht hatte, die ihre historisch geringe Geburtenrate zum gegenwärtigen Zeitpunkt erklärte, hatten sie noch nie einen Fremden gesehen - das heißt, jemand, dessen Begriffsbezüge nicht ihre eigenen waren. Da sie kein Wort für »Fremdling« hatten, benutzten sie das Wort für »Teufel«, um den Pelzhändler zu bezeichnen, und später beschlossen sie, dieses Wort, das sich als so überaus angemessen erwiesen hatte, für alle diese Rundäugigen als generische Bezeichnung zu verwenden, die nun überall auftauchten.
    Denn ehe man nur blinzeln konnte, stand schon eine ganze fremde Stadt um diese erste Holzhütte, und jetzt, wo die Eisenbahn auf dem Weg nach R. so nahe an ihnen vorbeifuhr, daß die kleinen Kinder neben den großen, ungefügen, schnaubenden Lokomotiven einherliefen und sie anfeuerten - wie lange würde diese Gemeinschaft der Träumer noch die primitive Integrität ihres kollektiven Unbewußten gegen die brutale Attacke der Technologie des Dampfzeitalters aufrecht erhalten können?
    Vielleicht gerade so lange, wie sie sich verschworen, es zu ignorieren. Solange keines der beifallklatschenden Kinder beschloß, Lokführer zu werden, wenn es einmal groß war. Bis einer von ihnen sich fragte, woher die Züge wirklich kamen und wohin sie wirklich fuhren, anstatt ihnen mit gleichgültiger Verwunderung nachzusehen. Und es war Gleichgültigkeit, eine sorgfältig kultivierte Gleichgültigkeit, mit der sich die Stammesangehörigen gegen die gesamte Bedeutung der Stadt R. und ihrer Bewohner verteidigten.
    Hinter dieser Gleichgültigkeit verbarg sich Furcht. Sie fürchteten nicht die Fremden selbst; er, der die Sterilität bei ihnen einführte, brachte auch die Feuerwaffen mit, und Eingeborene und Siedler lernten rasch, daß eine bewaffnete Neutralität das Beste war. Noch fürchteten sie die Gonokokken - es war eine andere Infektion, welche sie ängstigte, eine geistige Infektion der Unzufriedenheit, die man sich zuzog, wenn man sich dem Unvertrauten aussetzte, und deren Symptome Fragen waren. Deshalb besuchten sie die Siedlung R. zum Handel und zur Beutesuche in den Abfällen. Nichts sonst. Für sie war R. genauso eine Traumstadt wie ihr eigenes Dorf, und sie wollten, daß es auch so bliebe.
    Obwohl Walser zweimal so groß war wie sie im Durchschnitt,

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