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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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weiß wie geschältes Birkenholz und seinen runden Augen die Mongolenfalte fehlte, wußten sie doch, daß er kein »Teufel« im Sinn von »fremder Teufel« war, mehr ein »Teufel« im Sinn von »dämonischer Besucher«, oder »Waldgeist« oder »Vertreter der Geisterwelt«, wegen der außerordentlichen Anfälle, die ihn zu fast allen wachen Stunden heimsuchten. Der Schamane stellte seinen Findling dem Rest des Stammes mit den Worten vor: »Sehet diesen Träumer!« Sie lauschten dem Plappern Walsers respektvoll, und als sie ihn nicht verstanden, nahmen sie es als Beweis seiner heiligen Trance.
    Als Walser sich nun langsam von der Amnesie erholte, die dem Schlag auf seinen Kopf gefolgt war, fand er sich zu einer dauernden Existenz heiligen Delirierens verurteilt - oder hätte sich so verurteilt gefunden, wenn sich ihm irgendeine andere Existenzmöglichkeit aufgetan hätte außer der des Wahns. So blieb sein Selbst verhangen.
    Walser lebte mit dem Schamanen zusammen. Schon der Vater des Großvaters des Schamanen war ein Schamane gewesen. Als kränklicher Junge hatte er unter Ohnmachten gelitten, ebenso wie sie vor ihm. Während einer dieser Ohnmachtsanfälle besuchten alle seine wunderbaren Vorväter den Jungen. Einige trugen Hörner, andere Euter. Sie stellten ihn wie einen Holzklotz auf und schossen mit Pfeilen nach ihm, bis er in seiner Ohnmacht erneut in Ohnmacht fiel - anders ausgedrückt: während seiner Ohnmacht träumte er, er würde ohnmächtig. Dann schnitten ihn die Vorfahren in Stücke und aßen sein rohes Fleisch. Sie zählten die Knochen, die übrigblieben. Es war einer mehr als die übliche Zahl. So wußten die Vorfahren, daß ihr Nachkomme das richtige Zeug hatte, den Familienberuf zu ergreifen.
    Das Ritual dauerte einen ganzen Sommer, und während sich die Vorfahren damit beschäftigten, durfte der kleine Junge nichts essen und nichts trinken und wurde deshalb sehr blaß. Nun, da er erwachsen war, sah der Schamane auf Walsers blasse Haut und dachte sich, daß das Zählen seiner Knochen sicher viel länger gedauert hatte als einen Sommer. Hatte es Probleme gegeben? Zu viel Knochen? Zu wenig? Und was mochten zu viele oder zu wenige Knochen im großen System aller Dinge bedeuten? Gerade die Art Rätselfrage, die der Schamane schätzte!
    Nachdem die Vorfahren die Knochen gezählt hatten, fügten sie sie wieder zusammen und belebten den Jungen mit einem stärkenden Trank aus Rentierblut. Wie er in seiner Hütte lag, begann seine Zunge von selbst zu singen. Seine Mutter und sein Vater, die beide Schamanen waren, kamen und lauschten. Das Singen sagte ihnen, was für eine Trommel ihr Sohn tragen sollte, wenn er ging, die Geister zu rufen. Sie schlachteten ein Rentier und begannen gleich damit, ihm die Haut abzuziehen und sie zu trocknen.
    Der Schamane gab Walser noch einen Becher Pisse, und Walser begann zu singen. Der Schamane lauschte mit großer Achtsamkeit. Walser sang:
    So we’ll go no more a-roving
    So late into the night
    Though the heart be still as loving
    And the moon shine still as bright.
    Welch zärtliche Anteilnahme der Schamane verspürte, als er Tränen die Wangen seines jungen Mündels herabrinnen sah! Doch der Klang des Singens kam ihm überaus seltsam vor, da er keine europäische Musik kannte. Aber er war sicher, daß er die Töne korrekt interpretiert hatte, und er schlachtete ein Ren und spannte die Haut zum Trocknen zwischen zwei Pfähle. Wegen des ungünstigen Wetters war er gezwungen, dies in der Hütte zu tun, die bald massiv roch. Er schürte das Feuer mit trockenen Thymian- und Wacholderzweigen, nicht, damit der duftende Rauch den Stank der faulenden Rentierhaut überdeckte (er selbst fand ihn recht angenehm, wenn es auch Walser ein wenig würgte), sondern weil der Qualm der brennenden Kräuter Visionen heraufrief. Walsers Augen drehten sich in den Höhlen herum und herum: ausgezeichnet!
    Normalerweise teilte Walser das Essen des Schamanen, aber heute - als Experiment - beschloß der Schamane, Walser dieselbe Nahrung zu geben wie den Idolen der streng-kargen und fensterlosen Götterhütte des Dorfes, den menschenähnlichen Formen, vor denen er die Mysterien seiner Religion ausübte. Diese taten sich gütlich an zerstoßener Gerste, mit Piniennüssen und mit der Brühe von gekochtem Auerhahn zu einem Mus vermengt. Walser begann mißtrauisch zu essen, dann schob er das Mus mit dem Hornlöffel um den Rand der hölzernen Schale herum. Die trocknen Kräuter knisterten über dem Herd.

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