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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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aufstand und der freundliche Klang der Glocken von St. Mary-le-Bow durchs Fenster kam - die Wintersonne schien kühl auf die große Stadt, die mir eines Tages, ich hätt’s nicht gedacht, zu Füßen liegen würde -«
    »Da ist sie aufgegangen«, sagte Lizzie.
    »Ich bin aufgegangen«, sagte Fevvers. »Ich hatte mein kleines weißes Nachthemd ausgezogen, um meine Morgenwäsche zu machen, an meiner kleinen Kommode, als es plötzlich einen lauten Riß hinten in meinem Unterhemd tat, und plötzlich, ungewollt, unerwartet brach mein eigenstes seltsames Erbteil hervor - die Flügel. Noch jugendlich, ja, nicht halb so groß wie sie jetzt ausgewachsen sind, und feucht, klebrig, wie das gerade ausgetretene Laub eines Baums im April. Aber jedenfalls Flügel.
    Nein, keine Schmerzen. Nur Erstaunen.«
    »Sie tut einen lauten Schrei«, sagte Lizzie, »der mich aus einem Traum gerissen hat - denn ich hab mit ihr die Dachkammer geteilt, Sir -, und da stand sie, pudelnackt, das zerrissene Hemd um die Knöchel, und ich hätt denken mögen, daß ich noch träume oder daß ich gestorben bin und im Himmel unter den seligen Engeln. Oder daß mir nun der Beginn meiner Wechseljahre verkündigt wird.«
    »Was für ein Schock!« sagte Fevvers bescheiden. Sie zog eine Locke aus ihrem Chignon und wickelte sie um den Finger, drehte und knabberte nachdenklich daran herum. Dann wirbelte sie plötzlich auf ihrem Drehstuhl herum, weg vom Spiegel, und lehnte sich vertraulich zu Walser hinüber.
    »Jetzt, Sir, werde ich Ihnen ein großes Geheimnis anvertrauen, nur für Ihre Ohren bestimmt und nicht zur Veröffentlichung freigegeben, weil mir Ihr Gesicht gefällt, Sir.« Sie blinzelte ihn dabei mit theatralischer Koketterie an. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, so daß Walser sich zwangsläufig vorbeugen mußte, um sie hören zu können; ihr Atem mit seinem Champagneraroma wärmte seine Wange.
    »Ich färbe sie, Sir!«
    »Wen?«
    »Meine Federn, Sir! Ich färbe sie! Glauben Sie nicht, daß ich seit meiner Pubertät so bunte Farben getragen habe. Ich fing an, meine Federn zu färben, als meine Karriere am Trapez begann, um den tropischen Vogel besser darstellen zu können. In meinem unschuldigen Mädchenalter und meinen frühen Jahren, da hab ich meine Naturfarbe behalten. Eine Art Blond, nur ein wenig dunkler als das Haar auf meinem Kopf, mehr die Farbe von dem Haar an den anderen ahem Orten.
    Das also ist mein entsetzliches Geheimnis, Mr. Walser, und, um die ganze Wahrheit zu sagen, die einzige Täuschung, die ich meinem Publikum vorsetze!«
    Um das zu betonen, knallte sie ihr leeres Glas mit solcher Wucht auf den Tisch, daß die Flaschen mit Essenzen und Schminkfarben hüpften und klirrten und scharfe Wolken billigen Parfums ausstießen; aus einer abrupt verschobenen Schachtel stieg ein Pudernebel auf, der sich schmerzhaft in Walsers Kehle setzte, so daß er zu husten anfing. Lizzie klopfte ihm den Rücken. Fevvers ignorierte diese Aktion.
    »Lizzie lief vor dieser unerwarteten Erscheinung kreischend im Nachthemd nach unten:
    ›Nelson, Mutter Nelson, komm schnell, unser kleiner Vogel fliegt gleich davon!‹ Die gute Frau rannte, zwei Stufen auf einmal, nach oben, und als sie sah, was mit ihrem Lieblingsküken geschehen war, lachte sie aus reinster Freude.
    ›Nun haben wir doch wirklich ohne unser Wissen einen Engel beherbergt!‹ sagte sie.
    ›Ach, meine Kleine, ich glaube, du mußt das reine Kind des neuen Jahrhunderts sein, das jetzt schon heraufzieht, das Neue Zeitalter, wo die Frauen nicht mehr an den Boden angekettet sein werden.‹ Und dann weinte sie. An diesem Abend warfen wir Pfeil und Bogen weg, und ich posierte zum ersten Mal als Nike, als geflügelte Siegesgöttin, denn wie Sie sehen bin ich in großem Maßstab entworfen und selbst mit vierzehn hätte man aus mir zwei Lizzies machen können.
    Ach, Sir, lassen Sie mich ein Weilchen meinem Herzen folgen und Ihnen das geliebte Haus beschreiben, das zwar übel beleumundet war, mich aber so lange vor den Stürmen der Mißgeschicke beschützt hat und meine jugendlichen Flügel davor bewahrt, daß ich sie durch den Dreck ziehen mußte.
    Es war eins von diesen alten, aus roten Ziegeln gebauten Häusern mit einer quadratischen, einfach-nüchternen Fassade und einem eleganten, muschelförmigen Halbkreisfenster über der Eingangstür. So Häuser findet man selbst jetzt noch in den Teilen von London, die so weit entfernt von den Strömungen der Mode sind, daß nichts Altes weggespült

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