Nächte im Zirkus
was geschehen war.
Walsers Ren, sich selbst überlassen, führte sie in Richtung des Heiligtums der fremden Teufel und ihrer verfluchten Eisenstraße. Der Schamane war insgeheim beunruhigt, doch war andererseits auch alles möglich, selbst eine Vision, die bedeuten würde, daß die Schamanenmütze der Kopfbedeckungen der Schaffner auf der Transsibirischen Eisenbahn gleichen sollte, so daß alle hinterhergingen. Walser wandte pflichtbewußt an, was er über das feierliche Aussehen gelernt hatte, und mit solchem Erfolg, daß der Schamane trotz seiner inneren Unruhe gefühlvollen Stolz empfand.
Der Tag war so schön, wie ihn die Landschaft zu dieser Jahreszeit nur bieten konnte - ein Himmel, blau wie ein Babyauge; blasser, zurückhaltender Sonnenschein, der den bittersüßen, slawischen Genuß der kurzen Dauer in sich trug, denn schon sehr bald würde er verflogen sein; und Schnee, der heute nicht wie eine tödliche Decke dalag, sondern wie eine zarte Hülle, welche die Kälte von den keimenden Samen fernhalten soll. Die Kinder machten Schneebälle und bewarfen einander. Ein Schneeball traf die Kappe des Schamanen hinten und ließ die Glöckchen erklingen, wozu das Kleinzeug gedämpft aufkicherte. Melancholisch vermerkte der Schamane dieses Zeichen von Respektlosigkeit. So stolz er auf Walser war - ein sechster Sinn sagte ihm, daß der Tag nicht gut verlaufen könnte. Er war entzückt, als das Ren Walsers von der Bahnlinie nach R. plötzlich abbog und einen Kurs in Richtung des Flusses einschlug; seine Stimmung hob sich sogleich. Alle glitschten und sprangen fröhlich voran.
Und dann warf der leuchtende Schatten des Unwahrscheinlichen seinen verwandelnden Bann über den Morgen.
Aus dem Nichts oder aus dem blaßblauen Himmel oder vielleicht aus dem kühlen Herzen der zerbrechlichen weißen Sonne kam eine im Gesang erhobene Stimme - eine menschliche Stimme, eine Frauenstimme, eine wunderbare Stimme. Eine solche Stimme, von der man meinen wollte, sie würde den Frühling vor der Zeit bringen. Eine Stimme, all die kleinen Blumen zu erwecken, daß sie aus dem Schnee kamen und ihre Blütenblätter trockneten. Eine Stimme, daß die Lärchen vor Lust zitterten und ihre Zweige ausstreckten wie Kinder, die tanzen wollen. Alle Erneuerung des Lebens, alle Verjüngung versprach diese Stimme.
Ein Sopran mit Klavierbegleitung.
Vögel fuhren mit klappernden Flügeln auf und schwebten aus dem Gezweig hervor, um durch die helle Luft zur Quelle der Musik zu fliegen. Das Unterholz raschelte von den Bewegungen kleiner Säugetiere und Nager, als auch sie sich aufmachten, durstig von diesem Wunderbrunnen des Gesangs zu trinken. Selbst die Rentiere, auf ihren Füßen stehend wie auf Schneeschuhen, beschleunigten ihren tappenden Schritt.
Doch wenn Flora und Fauna des sibirischen Waldes wie einst die der thrakischen Wälder der Musik Orpheus’ antworteten, so waren die menschlichen Waldbewohner taub für die Echos des Mythos, da sie keinen Widerhall in ihrer eigenen Mythologie erweckten. Diese Musik enthielt für sie keinen Zauber und drang ihnen nicht in die Brust, gar nicht - sie erkannten kaum das Schubertlied als Musik, da es wenig gemeinsam mit den Tonleitern und Klangfarben ihrer eigenen Musik hatte, die sie auf den unregelmäßig erfolgenden Befehl der Geister hin auf Trommeln, Flöten aus den Schenkelknochen des Elchs und Vibraphonen aus tönenden Steinen machten. Was den Gesang anging, so zogen sie sandpapierrauhe Stimmen vor - die Honigsüße des Mädchensoprans wirkte auf ihren Gaumen nicht wie Honig. Die Magie des Sangs war fremde Magie und bezauberte sie nicht. Sie interessierte sie jedoch, erregte sie sogar - auch sie zogen zum Ursprung der Stimme hin und überlegten, ob dies Kakophonien ungeladener Götter sein mochten, die an diesem ungewohnt hellen Sonnwendtag über die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren geschlüpft sein mochten. Alle Stirnen waren gerunzelt, alle Lippen nachdenklich geschürzt.
Doch Walser fand sich zittern wie die Lärchen, denn die Musik besaß die Vertrautheit des erinnerten Traums. Als er das Haus auf der Lichtung mit seinem Dach hingegossener Tiger sah, war dies eine so komplexe Vision, daß er sie zuerst nicht entschlüsseln konnte, sondern sein Rentier etwas zurückhielt, während die neugierigen Waldbewohner eifrig vordrangen.
Der Schamane jedoch wurde mißtrauisch. Er war es gewohnt zu sehen, er, der Seher, und dann andere Leute zu überreden, daß sie dasselbe gesehen hatten
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