Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
Vom Netzwerk:
Kannibalin spielen. Doch diesmal flüstere ich in meiner extremen Lage ein Gebet um Vergebung an meine gefiederten Vorfahren und greife zu. Und da steht auch eine sehr anständige Flasche Rotwein zum Hinunterspülen, und ich nehm mir auch davon. Mr. Rosencreutz fängt sogleich an zu schwatzen.
    ›Laß dir nicht einfallen, daß an unserem Treffen irgend etwas Fleischliches, irgend etwas Unanständiges oder auch nur im entferntesten Körperliches ist - in dieser Nacht der Nächte, wo der leuchtende Stern in des Mondes keuscher Umarmung liegt, gerade über diesem Haus, was den göttlichen nachsintflutlichen Ablaß bedeutet, die Versöhnung des Entsetzlichen, denn es gibt eine geheime Weisung, die in jenem Motto bloßer Höflichkeit verwirrt und vernebelt wird - es heißt nämlich nicht: Honi soit qui mal y pense, sondern Yoni soit qui mal y pense, wobei Yoni natürlich in der Sprache der Hindus das weibliche Teil, oder die Leere, das fürchterliche Loch, den schlimmen Abgrund bedeutet, den Abyssos, Tief Drunten, den Vortex, der alles aufs schrecklichste nach unten saugt, hinab, hinab, wo das Entsetzen herrscht...‹
    Also dies war die Bedeutung seines goldenen Medaillons! Der Penis - symbolisiert durch sich selbst - sucht den Aufstieg in höhere Sphären (die Flügel!), wird jedoch nach unten gezerrt (die ihn umschlingende Ranke) durch das weibliche Teil, symbolisiert durch die Rose. Hm. Hier haben wir’s mit einer ketzerischen, möglicherweise manichäischen Version neoplatonischen Rosenkreuzertums zu tun, denk ich mir; aufgepaßt, Mädel! ermahne ich mich selbst.
    Er ist selbst so entsetzt bei der Vorstellung jener Öffnung, daß der arme Alte nun langsamer murmelt und wimmert und stockt, obwohl ihm der Abgrund kaum fremd sein kann, pflegte jeden Sonntag zu kommen, bloß um sich zu überzeugen, daß es genauso schrecklich war, wie er sich’s immer vorgestellt hatte. Ich schenk mir noch ein Glas Wein ein, um mich zu kräftigen, und auch eins für meinen Gastgeber, der’s anscheinend nötig hat. Er stürzt es abwesend hinunter, und nach einigen Augenblicken hat er sein Gleichgewicht wiedergefunden und wendet sich glücklicheren Gedanken zu.
    ›Flora!‹ ruft er. ›Rascher, frischer Geist der erwachenden Welt! Geflügelt und nach oben strebend! Flora, Azrael, Venus Pandemos! Dies sind nur einige wenige der Namen, mit welchen ich meine Göttin ehren könnte, aber heute nacht will ich dich oft und oft Flora nennen - denn weißt du nicht, welche Nacht nun herrscht, Flora?‹
    Ich probiere einen Happen seines exzellenten Stilton und denke, während ich bedächtig den Käse koste, über den barocken Eklektizismus seiner Mythologie nach.
    ›Der dreißigste April‹ sage ich, mißtrauisch, ob sich nicht ein neues Rätsel hinter seiner Frage verbirgt.
    ›Und morgen ist der erste Mai, Flora mia‹, versichert er mir. ›In wenigen Momenten wird dein Tag anbrechen, die grüne Türangel des Jahres dreht sich. Die Tür des Frühlings öffnet sich und läßt den Sommer ein. Es wird der frohe Maienmorgen sein!‹
    Nervös stärke ich mich mit einem weiteren Glas Wein.
    ›Nun ist bekanntlich der Maibaum ganz offensichtlich nichts anderes als eine Darstellung des Phallos, das heißt: ein Lingam, ergo ein durchdringender und befruchtender Speer wie die Lanze des Longinus - beachte dies long ! Die lange Lanze des Longinus...‹ Doch hier zwinkert er und stottert, denn er ist drauf und dran, sich in seiner eigenen Mythologie zu verirren, und es wird ihm ganz artus- und gralmäßig, und gleich steckt er in der Sackgasse. Mit zitternder Hand schenkt er sich Wein nach und stolpert in seine Fruchtbarkeitsriten zurück.
    ›Maibaum, Phallus, Lingam - ha! Hinauf! Zieht ihn hoch! Da steht er! Morgen werden auf allen Dorfplätzen des guten alten England die heiligen phalloi dieser gesegneten Jahreszeit emporschnellen, und deshalb habe ich die heutige Nacht unter allen Nächten auserwählt, dich aus deinem dunklen Hause zu holen, aus dem Abgrund, dem Erebos des ewigen Winters, regiert von jenem alten Höllenzwerg Madame Schreck.‹
    Nun paßte ja ›alter Höllenzwerg‹ eigentlich hervorragend auf die besagte Mrs. S., und ich dachte mir, wo er recht hat, hat er recht, und besah den Verrückten freundlicher.
    Würden Sie gern seinen Namen erfahren, Sir?« unterbrach sie sich plötzlich und warf Walser abrupt einen Blick zu wie scharfen blauen Stahl. Ihre Haarnadeln hatten alle unter den stürmischen Wogen ihres Viertelzentners Haar

Weitere Kostenlose Bücher