Nächte im Zirkus
Schätzung nach vergingen nicht mehr als zwei Stunden, ehe die Pferde ihren vorwärtsstürzenden Galopp verlangsamten. Wir hielten an. Einer der Ganoven hielt die Tür auf, und der andere nahm mir das Netz ab, wobei er es sich nicht nehmen ließ, meinen Busen ausführlich zu betatschen. Ich schlug ihm mit dem Ellenbogen in die Zähne, und er ließ mit einem Fluch von mir ab. Ich warf die Reisedecke um mich, wies die Hilfe der beiden Scheißkerle zurück und stieg stolz mit eigener Kraft aus der Kutsche, als sei ich eingeladen und nicht entführt.
Vor mir sah ich ein Herrenhaus im gotischen Stil, ganz mit Efeu überwuchert, und über den Türmchen schwebte ein dünner Mond, wie das Weiße eines Fingernagels, mit einem Stern in den Armen. In der Nähe heulte ein Hund. Um uns lag die geheime Stille waldbestandener Hügel. Obwohl das Haus in so altertümlichem Stil errichtet war, war es erst kürzlich erbaut worden: Neue, wie rohe Mauersteine waren unter dem Efeu erkennbar, und die Haustür aus künstlich rauchgeschwärzter Eiche war mit neuen Messingbeschlägen verziert, welche alten Nägeln nachempfunden waren. Diese Tür stand offen und ließ viel helles Licht aus der Eingangshalle nach draußen strömen.
Die Grobiane nahmen nun jeder einen von meinen Armen, wie vorher, und hätten mich wie eine Gefangene die Treppe hinaufmarschieren lassen, hätte ich mich nicht freigerungen - frei, aber nirgendwohin zu gehen als durch diese Tür, die sich krachend hinter mir schloß.
Nur die aktuelle Ausgabe der Times auf einer Eichentruhe war der Beweis, daß ich nicht auf irgendeine Weise zauberisch in ein früheres Zeitalter zurückversetzt worden war, wo alles neu war, weil es neu war, nicht weil es eine Imitation war. Ich stand in einem Vorraum mit quadratischem Grundriß, erbaut aus großen, quadratisch zugehauenen Steinen. Der Boden mit Pflastersteinen gedeckt, in der zentralen Wölbung der kannelierten Decke - sinnvollerweise - dasselbe Symbol des geflügelten rosigen Phallus, das Mr. Rosencreutz um den Hals trug. Dies war aus einem dunklen Stein gemeisselt, vielleicht aus Marmor. Alles hell erleuchtet - wie ich vermutete, elektrisch, aber die Lichtquellen waren hier und dort in Mauernischen verborgen.
Durch ein steinernes Portal war ein kleiner, ringsum holzgetäfelter Raum zu sehen, und ich erblickte einen Mann, der in einem von zwei geschnitzten Eichenstühlen neben einem niedrigen Eichentisch saß, auf dem eine Vase schöner weißer Rosen stand. Sein Gesicht war unkenntlich, da er in einem großen Buch las, wie eine Bibel, mit metallenen Schließen.
Einen Augenblick lang erkannte ich Mr. Rosencreutz nicht ohne seinen Hut - er war wirklich kahl wie ein Ei, sein Kopf glänzte, als hätte das Hausmädchen ihn mit demselben Tuch poliert wie das Tafelsilber. Auch hatte er nicht seinen pflaumenfarbenen Rock an, sondern eine Art langes, weißes Nachthemd, mit einem Strick gebunden. Als ich aber sein Medaillon sah, erkannte ich meinen Mann und bereute bitterlich die tausend Guineen, die ich bei Madame Schreck zurückgelassen hatte, ich kann’s Ihnen sagen. Da fiel mir ein, wie die Abmachung gewesen war, halb im voraus, halb bei Lieferung, es war noch eine Rate fällig. Also sage ich sehr höflich: ›Guten Abend, Mr. Rosencreutz.‹
Jetzt läßt er sich herbei, sein Buch sinken zu lassen, und zweifellos bin ich für ihn ein enttäuschender Anblick, in dieser alten Decke und ganz zerzaust. Aber er läßt es sich nicht mit dem kleinsten Muskelzucken anmerken.
›Willkommen, Azrael‹, sagt er. ›Azrael, Azrail, Ashriel, Azriel, Azaril, Gabriel - dunkler Engel mit vielen Namen. Sei mir willkommen, der du dein Heim im dritten Himmel verlassen hast. Siehe, ich begrüße dich mit Rosen, die nicht weniger paradox und frühlingshaft sind als deine Gegenwart hier, die du wie Proserpina aus dem Totenreich heraufkommst, neues Leben zu verheißen!‹
Das ist natürlich alles schön und gut, aber in diesem Fall, dachte ich, könnte er mich zumindest einladen, Platz zu nehmen, und das fällt ihm überhaupt nicht ein - noch hat er mir nach meiner höchst anstrengenden Reise irgend etwas anzubieten, nicht einmal eine Tasse Tee, sondern lächelt mich nur fortwährend an; die armen alten Augen schwimmen in Wasser.
›Und was für ein hübscher Engel!‹ sagt er sentimental. ›Selbst wenn sie einen Fleck auf der Nase hat!‹
›Dann zeigen Sie mir mal das Badezimmer, daß ich mich waschen kann‹, geb ich zurück, und er hört abrupt
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