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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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gehören: die Frauenarbeit, die nie ans Ende kommt, die Arbeit aller Marthas und auch aller Marias, alle Arbeit, zeitlich wie geistlich, in dieser Welt und in der Vorbereitung für die nächste, die nie zu Ende sein wird. Immer wird eine widersprüchliche Anforderung jegliche Aufgabe ins Unendliche aufschieben. Also... gab es keinen Grund, sich zu eilen!
    Was auch gut war, denn sie war... fast... am Ende der Kräfte.
    Ganz Rußland lag in der Begrenzung, der Zurückgebundenheit ihrer Bewegungen beschlossen, und viel vom Wesen ihrer mißbrauchten und vertrockneten Weiblichkeit. Symbol und Frau, symbolische Frau, hockte sie vor dem Samowar.
    Die Holzkohle wurde rot, dann schwarz, schwärzte und rötete sich im Rhythmus asthmatischen Stöhnens, das ebenso aus den erschöpften Lungen der Babuschka wie aus ihrem Blasebalg hätte dringen können. Ihre langsamen, ernsten Bewegungen, ihre langsamen, ernsten Worte waren von der Würde durchdrungen, welche die Hoffnungslosen haben.
    »Es war einmal...« - puuh! - »ein Schwein...« - puuh! - »das ging nach Petersburg hinein...«
    Petersburg! Da glühte die Holzkohle auf und zischte; Petersburg - allein der Name war eine Ermunterung, selbst wenn man dort lebte; selbst die erschöpfte Seele von Mütterchen Rußland regte sich ein klein wenig.
    Sankt Petersburg, eine herrliche Stadt, die nicht mehr existiert. Heute reckt sich eine andere herrliche Stadt mit einem anderen Namen über die mächtige Newa. An ihrer Stelle stand einst Sankt Petersburg.
    Rußland ist eine Sphinx. O großartige Unbeweglichkeit, alt, hieratisch, mit einer Flanke dich über Asien räkelnd, mit der anderen auf Europa, welch beispielhaftes Schicksal webst du aus Blut und Sehnen der Geschichte in deinem schlafenden Schoß?
    Sie gibt keine Antwort. Die Rätselfragen prallen von ihrem Leib ab, dessen Seiten so fröhlich bemalt sind wie eine Bauerntroika.
    Rußland ist eine Sphinx: Sankt Petersburg das wundervolle Lächeln auf ihrem Antlitz. Petersburg, lieblichste aller Halluzinationen, die zitternde Luftspiegelung, die man in der Wildnis des Nordens einen Augenblick lang zwischen dem schwarzen Wald und der vereisten See erschaut.
    In der Stadt die süße Harmonie der geometrischen Perspektiven, draußen das grenzenlose Rußland und der nahende Sturm.
    Walser unterbrach sich, um seine erkalteten Finger zu strecken und ein neues Blatt Papier in die Schreibmaschine zu spannen.
    Auf den Befehl des Herrschers hin verwandelten sich die Felsbrocken der wilden Landschaft in Paläste! Der Herrscher streckte seine gebieterische Hand am, zog das Nordlicht herab, hängte es als Kristallüster auf... Ja! Errichtet nach der Laune eines Tyrannen, der seine Erinnerung an Venedig an einer sumpfigen Küste am Ende der Welt unter einem unwirtlichen Himmel in Stein wiederauferstehn sehen wollte, trägt St. Petersburg, diese Stadt, Stein für Stein zusammengesetzt von Dichtern, Scharlatanen, Abenteurern und verrückten Priestern, von Sklaven, von Exilanten, trägt diese Stadt den Namen jenes Herrschers, der derselbe ist wie der des Heiligen, der die Schlüssel des Himmelreiches bewahrt... Sankt Petersburg, eine Stadt, errichtet aus Hybris, Einbildungskraft und Begehren...
    Wie wir selbst zusammengesetzt sind; oder wie wir es sein sollten.
    Die alte Frau und das Kind beachteten das Klappern der Schreibmaschine hinter sich nicht. Sie wissen nicht, was wir über ihre Stadt wissen. Sie lebten weiter, ohne Wissen, ohne Ahnung, in dieser Stadt, die dabei ist, zur Legende zu werden, aber noch nicht ganz soweit. Diese Stadt, dieses Dornröschen von einer Stadt regt sich und murmelt vor sich hin, sehnt sich nach und fürchtet sich vor dem groben und blutigen Kuß, der sie wecken wird; sie zerrt an den Ankertauen, die sie an die Vergangenheit ketten, will aufbrechen, voll Verlangen, durch die Gegenwart hindurch in die Gewalt jener authentischen Geschichte hineinzubrechen, zu der (wie mittlerweile allen klar geworden ist!) diese Erzählung nicht gehört ...ihre Boulevards am pfirsich- und vanillefarbenem Stuck verschwimmen in den Nebeln der Herbste ... im Zuckersirup der Nostalgie nehmen sie den Charakter komplexer Künstlichkeit an - ich erfinde mir Stück für Stück eine imaginäre Stadt. Auf die trottet nun das Schwein der Babuschka zu.
    »Es war einmal ein Schwein, das ging nach Petersburg hinein, und dort da wollt es beten«, sagte die müde Babuschka und legte den Blasebalg beiseite, auf dem die einzigen Blumen im sterilen Garten

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