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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Augen seiner kleinen Vettern und Cousinen zweiten Grades zusammen. Quietsch! machten die Griffel auf den Schiefertafeln; dann wieder ein leichter Stoß mit dem Stock, und Walser drehte sich gehorsam herum und zeigte der Klasse seine Rückseite. Der Professor drückte sein besonderes Interesse an dem rudimentären Schwanzknochen am Ende des Rückgrats aus.
    Eine tiefe und ungewöhnliche, ja beunruhigende Stille erfüllte nun das Gebäude, unterbrochen nur vom rhythmischen Stöhnen des kopulierenden Paares.
    Der Professor machte einige rasche, brüske Handbewegungen, als kündige er nun einen neuen Gegenstand an. Er drehte Walser mit dem Gesicht zur Klasse, und das Schrillen der Griffel brach wieder los, als er Walsers Mund leicht mit seinem Zeigestock berührte und seine Lippen öffnete. Dann holte sich der Professor einen Eimer, den ein nachlässiger Stallbursche in der Manege zurückgelassen hatte, drehte ihn um und stellte sich darauf, um besser in Walsers Mund schauen zu können. Danach starrte er Walser direkt in die Augen, was in Walser wieder jene schwindelerregende Ungewißheit aufsteigen ließ, was menschlich war und was nicht. Wie ernst, wie inständig bittend sah der Professor aus, als er selbst anfing, seinen Mund zu öffnen und zu schließen, wie ein Goldfisch, der ein Gedicht aufsagt.
    Das Keuchen des Starken Mannes beschleunigte sich.
    Walser begriff schließlich, daß der Professor wollte, daß er zu ihnen spräche - daß sein Sprechen für sie von höchster Wichtigkeit war. Der Professor kauerte noch immer auf dem Eimer und starrte angestrengt in Walsers Mund, um die Bewegungen der Zunge und des Zäpfchens zu beobachten, als Walser zögernd begann:
    »Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel an Vernunft! Wie unendlich an Begabung!«
    Der Starke Mann kam in einer Kaskade viehischer Schreie zum Orgasmus, ein solcher Lärm, daß Walser bei seinem Vortrag ins Stocken geriet, doch mitten in der Ekstase des Starken Mannes schoß Sybil wie eine Kanonenkugel in die Manege, mit einer für ein Schwein bemerkenswerten Geschwindigkeit. Bänke und Schüler flogen nach allen Seiten. Ihre weiße Halskrause war verschoben und zerrissen, und sie kreischte, als sollte es ans Messer gehen.
    Mit einem gewaltigen Satz übersprang sie die Barriere und vergrub sich prompt in der kaiserlichen Loge, wobei sie ihr betäubendes Geschrei auch dann noch weiter vollführte, als sie sich schon tief unter die Samtteppiche gewühlt hatte, um dort Schutz zu suchen.
    Der Starke Mann brüllte, Sybil quiekte, es erhob sich der kummervolle Schrei des Colonels, dessen Schwein in Gefahr war, und aus der Menagerie drang plötzlich eine gewaltige Fuge röhrender Schreie, als seien all die Raubkatzen Pfeifen einer gewaltigen Orgel, die mit einem Mal machtvoll gespielt wird. Dann, ein entsetzlicher Ruf:
    DER TIGER IST LOS! DER TIGER IST LOS!
    Der Professor stieß in seiner Eile den Eimer klirrend um. Die Schüler hüpften über die umgestoßenen Bänke und kletterten die Stangen zur Orchesterplattform hinauf, wo sie sich zwischen den Notenständern zusammendrängten, großäugig und vor Erregung schnatternd und zwitschernd, voll atavistischer Dschungelangst. Das Liebespaar auf der Plüschbank erhob sich bleich und zitternd.
    Walser, nackt, von den Affen zurückgelassen, dachte: »Ich trete dem Tod nicht mit einer Narrenmüze entgegen!« Und riß sie sich vom Kopf.
    Er rannte. Er flankte über die Barriere und hatte den halben Weg zurückgelegt, den Gang durch das Amphitheater zum Hauptportal hinauf, als er - wie Lots Weib - einem Blick zurück nicht widerstehen konnte.
    Der Tiger rannte, Sybils Spur verfolgend, in die Manege.
    Er kam wie orangenes Quecksilber aus dem Gang hervor, oder wie ein selteneres flüssiges Metall, wie Quickgold. Er rannte nicht, er floß eher, ein witternder Strom aus Braun und Gelb, ein heißer fließend-geschmolzener Tod. Er schlich knurrend durch die Überreste des Affen-Klassenzimmers und sog in seine immensen geblähten Nüstern das köstliche Aroma der Freiheit ein, die nach freilaufendem Fleisch duftete. Wie gelb seine Zähne waren - die stinkenden Zähne des Fleischfressers.
    Der Starke Mann riß sich die klammernden Arme der Frau vom Leib, schlang das Lendentuch um seine Genitalien und lief zur Einlaßtür. Er war ein schönes Exemplar in bester Form; von Bankreihe zu Bankreihe schwang er sich, an Walser vorbei, der wie eine Salzsäule dastand, hinauf, hinweg. Die Tür fiel hinter ihm zu. Walser hörte

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