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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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das Geräusch der vorgeschobenen Riegel.
    Nun war der einzige Weg aus der Manege der, auf dem der Tiger sie betreten hatte.
    Ich befinde mich in einer tödlich perfekten Falle, dachte Walser.
    Die Frau des Affenbesitzers, deren Knöchel von ihrem abgestreiften Schlüpfer so sicher gefesselt waren wie von einer Bola, stieß einen markerschütternden Schrei aus.
    Wir befinden uns in einer tödlich perfekten Falle, dachte Walser.
    Als der Tiger die Frau schreien hörte, wußte er, daß etwas Besseres als Schweinefleisch auf der Karte stand. Er krümmte den Rücken. Der Schwanz nahm Haltung an. Er hob den schweren Kopf. Die gelben Augen umkreisten die Manege wie Suchscheinwerfer und hielten Ausschau nach dem Ursprung des Schreis.
    Die angstgeschüttelte Frau strampelte sich aus ihrer Unterwäsche und rannte den Kreis der Sitzbänke entlang.
    Die hin- und herkreisenden Augen des Tigers erblickten sie. Der Tiger scharrte mit seinen Hintertatzen; kleine Sägemehlwolken stiegen auf. Er legte seine runden, törichten Ohren an. Ihr Morgenmantel, wie ein Segel flappend, verfing sich an einem schlecht eingehämmerten vorstehenden Nagel und brachte sie zu Fall. Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Gang.
    Walser gewann den Gebrauch seiner Gliedmaßen zurück; ehe ihm noch klar war, daß er eine Entscheidung getroffen hatte, hatte er sich die Stufen der Zirkusarena hinunter dem bernsteinäugigen Ungeheuer entgegengeworfen, das gerade zum Sprung ansetzte. Unfreiwillig - wie sein ganzer Heroismus - stieß er einen riesenhaft lauten, wortlosen Kriegsschrei aus: Hier kommt der Clown, den Tiger zu töten!
    Töten - wie? Vielleicht mit den bloßen Händen erwürgen?

III
    Dann war da ein Raum, in dem grünliches Gaslicht zischte, als Walser die Augen aufschlug und eine Gestalt vor sich aufragen sah, die Verbandsstoff in eine Schüssel mit rosa Wasser tauchte, das durchdringend nach Karbolsäure roch. Er lag auf einer Art Diwan. Es war sein Blut, welches das Wasser rosa färbte. Er schloß wieder die Augen. Fevvers drückte den feuchten Tupfer unsanft gegen seine Schulter. Nun, da er bei Bewußtsein war, heulte er auf.
    »Immer schön vorsichtig«, riet Lizzie, die den Rand eines Bechers mit heißem süßem Tee gegen seine Lippen schob und langsam kippte. Tee mit Kondensmilch. Englischer Tee. Fevvers ließ mit dem Druck auf seinen Verband nicht nach. Sie trug ein strenges weißes Hemd, am Hals mit einer starkgemusterten Krawatte zusammengehalten, doch ließ sie dies keinesfalls maskulin erscheinen. In dem schneeweißen Leinen wirkte ihr Busen mächtig wie der einer Mutter für das Kind, über dessen Krankenbett sie sich beugt. Ihr Mißfallen war deutlich zu spüren.
    »Wir sind also fortgelaufen und zum Zirkus gegangen, Süßer?« fragte sie unfreundlich. Offenbar empfand sie es nicht länger als notwendig, ihn mit »Sir« anzureden.
    Walser zuckte unter ihrer Pflege immer wieder zusammen, so daß sich der Schal verschob, in den sie ihn gepackt hatten. Dieses Umhängetuch war aus Dutzenden kleiner gestrickter Quadrate zusammengenäht, und seine Technik zeigte die rührende Unbeholfenheit von Kindern: erster wirklicher Beweis, wie er sich einprägte, für die Existenz jenes Rudels von Cockney-Neffen und Nichten, von denen sie immer erzählten. Seine Perücke war verschwunden, und sein Haar war triefnaß.
    »Der Tiger hat Ihnen eins verpaßt, und dann hat die Prinzessin den Wasserschlauch angeworfen«, sagte Lizzie. »Schhhwupp! Mit dem Spritzschlauch volle Pulle draufgehalten, das bringt’s. Haut ihnen den Atem aus den Rippen. Haut sie auf den Rücken. Dann kann man sie mit dem Netz einsammeln.«
    In Fevvers’ neuer Garderobe standen vertraute, beruhigende Gegenstände. Eine vergoldete Uhr, darauf die Figur der Zeit mit Stundenglas und Sense; die Zeiger auf Zwölf. Ein eselsohriges Plakat an der Wand. Ein Dampfwolken ausstoßender Kessel auf einem Spirituskocher. Lizzie gab ihm noch mehr Tee.
    »Natürlich handelt es sich eigentlich nicht um einen Tiger!« teilte ihm Fevvers mit. »Hat Ihnen ja nicht viel Zeit gelassen, mal genauer nachzusehen. Tigerin. Das ewig Weibliche. Hätte Sie beinahe ganz schön hinangezogen, was?«
    »Greift eine verdammte Tigerin an!« rief Lizzie. »Was zum Teufel ist in ihn gefahren?«
    »Er hat’s mit dem Frauchen von dem Affenmann getrieben, nicht wahr?« sagte Fevvers ein wenig ausdruckslos. Sie drückte zu stark auf den Verband, daß Walser wieder heulend aufschrie.
    »Leugnen hilft gar

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