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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Flügel-Buckel abzulenken. Trotzdem:
    »Morgen«, knurrte sie übellaunig, »werden alle die feinen Dämchen von Petersburg einen Buckel tragen. Wieder ein gesellschaftlicher Triumph, Mister Walser.«
    Die Madonna misericordiae war sehr schlecht aufgelegt.
    »Und was ist uns hier zugelaufen?« wollte sie mit einem kalten Blick auf Mignon wissen. »Schnell, Liz, laß ein Bad einlaufen, eh sie uns mit irgendwas ansteckt.«
    Lizzie sah Walser streng an und stampfte davon ins Badezimmer, um ihren Auftrag auszuführen.
    In glücklicher Unkenntnis des kühlen Empfangs war das Mädchen - unter dem erbarmungslosen Licht der elektrischen Kronleuchter sah sie nicht älter als dreizehn aus - völlig überwältigt von dem Zimmer und drehte sich auf ein und derselben Stelle des Teppichs immer wieder um sich selbst, um alles in sich aufzunehmen; die schönen Bilder an den Wänden, dünnbeinige Tischchen mit Onyxaschenbechern und Zigarettendosen aus Chalzedon, das fröhliche Kaminfeuer, Plüsch, Glanz und tiefe Teppiche. Ooooooh!
    Beim Anblick des Entzückens dieses halbverhungerten Mädchens kämpfte Fevvers’ Gutmütigkeit mit ihrem Ärger. Sie seufzte, ließ sich erweichen und sprach Mignon in raschen Salven verschiedener Sprachen an, italienisch, französisch, deutsch, alles barbarisch ausgesprochen und grammatisch verquer, aber rasch wie Maschinengewehrfeuer. Als sie bei Deutsch angekommen war, lächelte das Mädchen.
    Fevvers wühlte unter einer welkenden Sammlung Orchideen, fand eine mit Bändern umwundene Schachtel von der Größe einer Kesselpauke, warf den Deckel beiseite und enthüllte gehäufte Lagen von Pralinen in Spitzentutus aus weißem Papier. Sie hielt die Schachtel mit einer abrupten Bewegung Mignon hin.
    »Auf geht’s. Hau rein. Essen. Gut. «
    Mignon, unbeholfen wie ein Junge, preßte die Schachtel an ihre Brust, sog den Geruch mit halbgeschlossenen Augen ein und wurde fast ohnmächtig über den sich vermengenden Düften kindischer Wollust - Kakao, Vanille, Veilchen, Karamellen, Nougat -, die aus den spitzengesäumten Tiefen emporstiegen. Sie schien kaum zu dem Wagnis in der Lage, die Pralinen zu berühren. Fevvers wählte brüsk eine dicke Schokoladenpraline mit einem kandierten Ingwerstückchen obendrauf und schob sie in den blaßrosa Mund, der sich wie eine Seeanemone öffnete und schloß. Eine glitzernde Schneckenspur, der Samen des Starken Mannes, lief Mignons Bein hinunter. Sie stank. Ehe sie den Affen-Mann geheiratet hatte, übte sie einen seltsamen Beruf aus: Sie stellte lange Zeit die Toten dar.
    Sie war das Kind eines jungen Mannes, der seine Frau, die Mutter seiner Kinder, tötete, weil sie mit den Soldaten einer nahegelegenen Kaserne Verkehr hatte. Dieser junge Mann führte die Frau zu einem Teich am Rande der Stadt, schnitt ihr die Kehle durch und kam in die Wohnung zurück, wo er noch genug Zeit hatte, den Kindern ihr Essen zu machen. Mignon und ihre kleine Schwester spielten auf dem Platz vor dem Haus. Mignon war beim Seilhüpfen, ihre Schwester schwang das Seil. Sie war sechs, ihre Schwester war fünf.
    Sie sahen ihren Vater zurückkommen. »Das Essen ist gleich fertig«, sagte er. Er ging ins Haus. An seinem Hemd war Blut, aber arbeitete er nicht im Schlachthaus? War es nicht seine Arbeit, dort den Boden zu säubern? So beachteten sie das Blut an seinem Hemd und seine nassen Hosen nicht weiter.
    Aber er kam gleich wieder aus dem Haus auf die Straße. »Das Brotmesser ist weg«, sagte er. »Ich muß das Brotmesser finden.« Später fragte man die Kinder, ob er sich ungewöhnlich benommen habe, aber wie kann ein sechsjähriges, ein fünfjähriges Kind sagen, was ungewöhnliches Benehmen ist und was nicht? Das Brotmesser war noch nie verloren gegangen. Das war ungewöhnlich. Aber Vater machte oft das Essen, weil Mutter die Wäsche für die Soldaten in der Kaserne wusch und abends wegging, um die gestärkten Hemden für die Offiziere abzuliefern, damit sie frisch für das Diner bereit waren.
    »Bad ist fertig«, sagte Lizzie, die in einer Wolke blütenduftenden Dampfes unter der Tür stand.
    Mignon kämpfte mit ihrem Mantel, aber da sie die Pralinenschachtel nicht loslassen wollte und diese, mit ihren Ärmeln ringend, unter den einen und dann wieder den anderen Arm klemmen mußte, dauerte es einige Zeit, bis sie aus ihm herausfand. Sie preßte die bebänderte Schachtel so eng an sich, daß man hätte glauben können, sie habe sich in die Pralinen verliebt
    Da er das Essen nicht bereiten konnte,

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