Nächte im Zirkus
ohne Brot aufzuschneiden, ging der Vater weg, um das Brotmesser im Teich zu suchen, und suchte so fleißig, daß er sich in fünf Fuß tiefem Wasser ertränkte. Sie fanden das Brotmesser, als der Teich abgesucht wurde. »Ist dies euer Brotmesser?« fragte der Richter freundlich. »Ja«, sagte Mignon und streckte die Hand danach aus, aber sie wollten es ihr nicht zurückgeben. Das war dann später.
Die kleinen Mädchen spielten auf dem Platz weiter, bis es dunkel wurde. Mignon schwang jetzt das Hüpfseil. Das andere Ende war an der Türklinke angebunden. Jetzt waren alle Fenster im Hause hell, aber ihres nicht. Dann war ihre Schwester hungrig, deshalb banden sie das Springseil ab und gingen die Treppe hinauf nach oben. Mignon wußte nicht, wie man Licht macht, aber sie fand den Brotlaib im Dunkeln durch Tasten auf dem Tisch und brach Stücke für die Schwester und für sich selbst ab, also aßen sie das.
»Gotteswillen!« rief Fevvers, als sie Mignon nackt sah. Mignons Haut war rötlich-blau, grünlich, gelblich von den Schlägen. Und es war noch mehr als die Spuren von frischen Schlägen auf abheilenden Spuren über abgeheilten Spuren; es war, als hätte man sie flach und platt geschlagen, hätte allen Glanz, allen Wuchs aus ihrer Jungmädchenhaut geprügelt, hätte sie fadenscheinig gehauen. Als hätte man sie gedroschen, zu der Dünne gehämmerten Metalls geschlagen - und die Prügel hatten sie fast in den Anschein der Kindheit zurückgestoßen, denn ihre kleinen Schulterblätter standen in spitzem Winkel ab, sie hatte keine Brüste und war beinahe unbehaart bis auf eine kleine flachsgelbe Strähne auf ihrem Venushügel.
Sie ließ den Mantel zu Boden fallen und - sich der erschrockenen Blicke ganz unbewußt - hüpfte davon ins Badezimmer, ganz Beine und Ellenbogen. Ihre Pralinen vergaß sie nicht mitzunehmen. Lizzie hob das zurückgelassene Kleidungsstück mit der Feuerzange auf und ließ es in den Kamin fallen, wo es aufflammte, knisterte, sich in ein schwarzes Gespenst seiner selbst verwandelte und in den Schornstein entschwebte. Fevvers drückte auf die Serviceklingel.
Die kleinen Mädchen weinten und schliefen ein. Am Morgen kam der Vater nicht, nur die Nachbarn kamen. An die Gerichtssitzung hatte Mignon nur eine ganz schemenhafte Erinnerung, weniger deutlich als an die Kutteln, die in der Pfanne hüpften, wenn der Vater eine Handvoll Eingeweide aus dem Schlachthaus gestohlen hatte, oder an das hübsche Band, das ihr ein Soldat geschenkt hatte und das die Mutter ihr wieder wegnahm. (Warum hatte sie das getan?)
Und nun, da sie ein großes Mädchen war, hätte sie sich von ihrem Vater nur den Geruch ältlichen Fleisches ins Gedächtnis zurückrufen können und einen blonden Schnurrbart, dessen Spitzen immer herabhingen, seinen Schnurrbart, der schon lange verzweifelt gewesen war, ehe er das Brotmesser ergriffen und in seinem Hemd versteckt hatte, seine Frau bei der Hand genommen hatte und mit ihr hinausgegangen war, um den Sonnenuntergang anzuschauen, wie er sich in der Wasserfläche spiegelte.
Von der Mutter, feuchte Hände voll Seifenschaum; Hände, die ihr Sachen wegnahmen. Und Tränen, unerfindlich in der Erinnerung wie damals im Leben, diese Tränen, die kamen, wenn die untreue Frau ihre Töchter an ihre Brust zog, wie sie es gelegentlich, wenn auch nicht häufig, tat.
In der kurzen Zeit, die Fevvers in Sankt Petersburg verbracht hatte, hatte sie sich anscheinend genügend schlechtes Russisch angeeignet, daß sie eine Mahlzeit bestellen konnte - und nachträglich fiel ihr noch eine Flasche jenes internationalen Getränks ein: Champagner. Es war deutlich, daß Mignons Lage ihr Herz erweicht hatte, wenn man es auch nicht vermutet hätte beim drohenden Blitz ihrer blauen Augen, wenn sie Walser trafen.
Im städtischen Waisenhaus untergebracht, beteten die Kinder und verbrachten den Rest ihrer Zeit mit Haushaltsarbeit. Dann war es, als ginge ihre Schwester in die eine Richtung davon und Mignon in die andere: an einem Morgen erwachten sie im selben Bett, eine in den Armen der anderen, und am Abend dieses Tages schlief Mignon auf einem Lumpenhaufen in der Ecke einer Küche ein, umgeben von dunklen Umrissen von Töpfen, Bratspießen, Krügen und Klopfhölzern für das Geflügel.
Sechs Monate hielt sie es aus, denn es war Winter, und das Haus, in das sie als Küchenmagd gekommen war, lag mitten auf dem Land mitten im Schnee. Als es aber Frühling wurde, rannte sie weg, und ein Bauer, der eine Wagenladung
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