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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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unter einem Bann.
    »Ich dachte, sie kann kein Englisch«, murmelte Fevvers irritiert, als hätte das Kind sie alle getäuscht.
    »Begreifst du nicht?« flüsterte Lizzie. »Sie kann die Wörter singen, aber sie weiß nicht, was es bedeutet.«
    In einer Winternacht, als die Schneeflocken um die Schornsteine wirbelten, wanderte Mignon, kühn vor Hunger, in die Geschäftsstraßen der Innenstadt, wohin sie sich sonst selten wagte. Ein Herr in warmem Wintermantel und mit einem Zylinder, den die Schneelast auf seiner Krempe melancholisch niederdrückte, kam auf dem Gehsteig auf sie zu geeilt, in seine eigenen Unternehmungen versunken. Sie stellte sich ihm in den Weg. Sie hatte seit zwei Tagen nichts gegessen. Sie war so dünn, daß sie keinen Schatten warf. Er hob die Hand, um sie beiseite zu streifen wie eine Fliege, die sich auf seinem Arm niedergelassen hatte, doch dann starrte er nachdenklich in ihr Gesicht, und ein Ausdruck berechnender Verschlagenheit und schlauer Erwartung trat auf das seine.
    Er war ein Medium und hatte seine Sprechzeiten in seiner behaglichen Wohnung über einem Krämerladen im nächsten Block. Herrliche Gerüche nach Nelken, getrockneten Aprikosen und Schinkenwurst stiegen durch die Dielenritzen herauf, und zum ersten Mal in ihrem Leben bekam Mignon genug zu essen. Sie nahm jedoch nicht zu; es war, als äße etwas in ihr alles auf, ehe es zu ihr selbst gelangte, doch hatte sie keine Würmer.
    Dieser Mann, Herr M., war von einem Gottesdienst in der Spiritistenkirche zurückgekommen, wie er ihn dort gelegentlich hielt, als er das kleine Straßenmädchen mit dem Kopftuch getroffen hatte. Er war in der Tat mit einem ernsten Problem beschäftigt gewesen, für das ihr Erscheinen die Lösung bot. Denn erst letzte Woche war seine Assistentin, ein fülliges Mädchen aus Schleswig-Holstein, in die er vollkommenes Vertrauen gesetzt hatte, mit einem brasilianischen Herrn auf und davon gegangen, einem Handlungsreisenden, der den Krämer im Erdgeschoß mit Kaffeeproben besuchte. Eines Tags war sie rasch nach unten geeilt, um etwas Käse und Brot zu kaufen, und der pomadisierte und ausladend gestikulierende Lateinamerikaner ließ seine Beutel mit grünen Kaffeebohnen im Stich, um in einem unwiderstehlich synkopierten Akzent ein wenig mit ihr zu flirten. Sie nahm seine Einladung an, an einem Sonntag, wenn Herr M. seine alte Tante in einem laubüberschatteten Vorort besuchen würde, mit ihm in einem bekannten Restaurant zu speisen. Eins kam zum anderen, und wenn das Medium auch scharfäugig in die nächste Welt sehen mochte, so war Herr M. doch blind wie ein Maulwurf für die Entwicklung gerade vor seiner Nase - bis er unter dieser Nase (genau dort: an das Kopfkissen, auf welchem er beim Erwachen ihren bezopften Kopf vorzufinden gewohnt war, mit einer Nähnadel angeheftet) einen Zettel vorfand, der ihm mitteilte, sie befände sich bereits im Zug, der sie zu dem Hafen bringen würde, wo sie und ihr Beau sich nach Rio einzuschiffen gedächten. Ha!
    Die durchgegangene Assistentin hatte sich ein paar Kleinigkeiten mitgenommen wie zum Beispiel Herrn M.s goldene Uhr und ein Bündel Banknoten, das er sicherheitshalber in der Standuhr verborgen hatte, aber er war ein großzügiger Mann und dachte sich, daß er ihr soviel zumindest schuldig war. Auch erleichterte ihn der Gedanke, daß sie fern im sonnigen Brasilien bei ihrem Senhor nichts ausplaudern konnte, was ihn in Verlegenheit gebracht hätte. Sie hinterließ jedoch eine peinliche Lücke: Er brauchte eine Assistentin, und seine Begegnung mit Mignon erschien ihm als von der Hand der Geister vorherbestimmt.
    Es war ihre Ähnlichkeit mit einem Phantom, welche ihn am meisten beeindruckte.
    »For the sword outwears the sheath
    And the heart outwears the breast
    And love itself must cease
    And the heart itself take rest.«
    Mignon sang ihr fremdes Lied ohne Sinn, ohne Fühlen, als leuchte das Lied durch sie hindurch, als wäre sie aus Glas; sie sang, ohne zu wissen, daß man ihr zuhörte; sie sang ihr Lied, das die Qual eines Erdteils in sich schloß.
    Herr M. - ein Einmal-pro-Nacht-Mann, rauf und wieder runter - vögelte Mignon mit der geistesabwesenden Regelmäßigkeit, mit der er die Standuhr aufzog, wenn auch niemals ebenso lange. Mignon aber konnte ihr Glück kaum fassen: ein Bett mit Laken, ein Sessel, ein warmer Ofen, ein Tisch mit einem Tischtuch, Mahlzeiten! Er ließ sie entlausen, bezahlte den Arzt für eine Untersuchung, bei der festgestellt wurde, daß sie wie

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