Nächte im Zirkus
Kraut in die Stadt brachte, nahm sie dorthin mit, nachdem sie ihm einen geblasen hatte. Sie wagte es nicht, in das Waisenhaus zurückzugehen, obwohl sie lange Zeit draußen herumstrich in der Hoffnung, die Schwester könnte vielleicht noch dort sein, aber sie sah sie nie, und da nahm sie an, daß sie wohl auch irgendwo eine gute Stelle gefunden hatte.
Den ganzen Sommer lang ernährte sich Mignon davon, daß sie auf dem Markt weggeworfene Blumen aufsammelte und zu krüppelhaften Sträußen band. Sie lernte, eine gewisse Phantasie beim Arrangement dieser Sträußchen zu entwickeln und ihre trouvailles mit Blüten zu ergänzen, die sie in den öffentlichen Parkanlagen pflückte, aber es war kein gutes Leben, es war kaum verhüllte Bettelei, und sie stahl auch anderes, Essen, nie und da ein Kleidungsstück, um sich durchzuschlagen.
Sie schlief, wo sie konnte - in Passagen, unter Brücken, in Toreinfahrten, und das ging auch an, solange es warm war. Bald hatte sie viele Bekannte unter den anderen Straßenkindern, der vom Zufall verworfenen Jugend der großen Stadt, und als die kalte Jahreszeit kam, tat sie sich mit einer ganzen Bande von Kindern und Jugendlichen zusammen, die ihr Hauptquartier in einem verlassenen Lagerhaus hatten.
Vom Bettler zum Dieb ist nur ein Schritt, aber ein Schritt, der zugleich in zwei Richtungen führt, denn was ein Bettler, moralisch gesehen, verliert, wenn er zum Dieb wird, das gewinnt er an Selbstachtung hinzu.
Wie geschickte Taschendiebe sie aber auch sein mochten, diese Kinder des gesellschaftlichen Abgrunds blieben - Kinder. Sie machten sich riesige Lagerfeuer des Nachts, teils, um sich zu wärmen, teils wegen des Vergnügens an den knistern der Flammen, sie spielten Fangen und Verstecken und Durch-die-Funken-Springen, sie verstrickten sich in kindische Streitereien und Auseinandersetzungen, und dann wurde das Feuer größer, zu groß, verzehrte ihr Zuhause, fraß auch ein paar von ihnen auf. Das Heim und die Familie, die sich Mignon erfunden hatte, gingen in Rauch auf, und sie war wieder auf sich allein gestellt.
So stahl sie ein wenig und holte nervösen Jungen in Seitensträßchen für ein paar Kupfermünzen einen runter und ließ es sich für ein paar Münzen mehr reinstecken, gegen eine schmutzige Wand gelehnt. Da war sie etwa vierzehn.
Der Kellner klopfte und rollte einen geschirrklingelnden Servierwagen herein. Eine Terrine und Champagner in einem silbernen Sektkübel, köstlich kalt angelaufen. Der Kellner deckte an einem der lustigen kleinen Tischchen einen Platz mit einem glänzendweißen Tischtuch, wobei er die ganze Zeit verstohlen in Fevvers’ nobles Dekolleté spähte, bis Walser in sich den merkwürdigen Wunsch aufsteigen spürte, dem jungen Mann eins auf die Nase zu geben. Wenn Fevvers auch nur für Mignon zu Essen bestellt hatte, gab es doch vier Gläser, wie gestielte Untertassen - die ließ sie mit einer raschen Handbewegung des Befehls durch Champagnerkelche ersetzen, eine Geste skrupulöser Eleganz, die Walser sehr gefiel.
Fevvers hob den Deckel der Suppenterrine - Weißbrot in warmer Milch für das mißhandelte Kind, sehr mütterlich. Sie holte sich ein Pröbchen mit dem Finger, versuchte es, schnitt ein Gesicht und streute reichlich Zucker aus einer silbernen Büchse in das Gericht. Sie setzte den Deckel wieder auf und schlug eine Serviette um die Schüssel, daß alles schön warm blieb. Trotz dieser gastlichen Vorbereitungen war die Cockney-Venus noch immer in übler Stimmung und warf Walser verächtliche und gereizte Blicke zu - aus Augen, die an diesem Abend dunkelblau wie Matrosenhosen waren.
Ekstatisches Planschen und kleine Entzückensschreie drangen durch die Ritzen der Badezimmertür, zusammen mit winzigen Dampfwölkchen. Dann begann Mignon zu singen.
Sie hatte einen lieblichen, kunstlosen Sopran - so weit, so gut; insofern paßte ihre Stimme zu ihrem unreifen Körper. Doch es war, als fände die kaum vorstellbare Tragödie ihres Lebens, dieses Meer von Elend und Verhängnis, in dessen Gefahr sie in ihrer unschuldigen Verderbtheit umherschwamm, als fände all dies jenseits ihres Bewußtseins oder ihrer Absicht Ausdruck in ihrer Stimme. Sie sang:
»So we’ll go no more a-roving
So late into the night
Though the heart be still as loving
And the moon shine still as bright.«
Alle drei Lauschenden spürten, wie sich ihnen die Haare im Nacken sträubten, als sei diese schöne Stimme etwas Unheimliches, als gehöre sie einer Zauberin oder jemandem
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