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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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durch ein Wunder sich nicht angesteckt hatte, schickte sie zum Zahnarzt, der ihre verfaulten Backenzähne zog, was die Ähnlichkeit ihres Gesichtes mit einem Totenkopf verstärkte. Da sie nur die Lumpen an ihrem Leib für alltags besaß, kaufte er ihr Wäsche, ein paar nüchterne Kleidchen, halb Wolle, halb Baumwolle, und für die Arbeitszeit ein paar hübsche weiße Nachthemdchen mit broderie anglaise. Einen Mantel brauchte sie nicht, da er sie nie aus der Wohnung ließ. Mignon fühlte sich im Himmel, aber im buchstäblichen Sinn hätte man Herrn M.s Etablissement als ein Paradies der Toren bezeichnen können.
    Herr M. hatte sich schon frühzeitig folgenden Grundsatz zurechtgelegt: Warum stehlen, wenn im Betrug eine größere intellektuelle Befriedigung liegt?
    Mignons tägliche Arbeit bestand von nun an darin, die Toten darzustellen und für die Photographien der Toten Modell zu stehen.
    Jeden Morgen studierte Herr M. beim Frühstück die Todesanzeigen in der Zeitung und markierte die Todesfälle junger Frauen mit dickem schwarzem Bleistifttrauerrand. Obwohl junge Ehefrauen, vorzugsweise die im Kindbett gestorbenen, manchmal höchst befriedigendes Material lieferten, waren die ehelichen Beziehungen unter Umständen ein delikates Problem, und am liebsten war ihm das Hinscheiden der einzigen Tochter eines älteren Elternpaars. Epidemien von Diphterie und Scharlach ließen ihn immer freudvoll lächeln und mit besonderer Munterkeit mit dem Löffel auf das Frühstücksei pochen. Nachdem er sein Ei, seinen Käse, seine Salami, seinen Toast und ein paar Löffel verschiedener Marmeladen verzehrt hatte - er hielt viel auf ein herzhaftes Frühstück -, setzte er sich mit einer zweiten Tasse Kaffee an die Arbeit und trug die befriedigenden Ergebnisse seiner Forschungen in eine Kartei ein.
    Manchmal besuchte er, feierlich wie ein Leichenbestatter und ähnlich gewandet, jene Begräbnisse, von denen er annahm, daß so wenige Trauergäste anwesend sein würden, daß sein Auftauchen im Gedächtnis haften bleiben müßte. Zu anderen schickte er erlesene Blumengebinde - ein weißes Veilchensträußchen, einen Kranz noch fast geschlossener Rosenknospen - mit seiner schwarzumrandeten Karte. Im allgemeinen verfolgte er jedoch keine Strategie des raschen Zuschlagens. Nein. Er ließ den ersten wilden Kummer verklingen, ehe er Zugriff. Er zog es vor, mit Kunden zu arbeiten, die aus Erfahrung wußten, daß sie untröstlich waren.
    Er war stolz auf seine Kenntnis des Menschenherzens.
    So verließ er sich in der Hauptsache auf Flüsterpropaganda und unterhielt hervorragende Beziehungen zu Kranzschleifendruckereien, Grabsteinmetzen, Friedhofsgärtnereien und Sargschreinern. Von allen Klienten waren ihm die am liebsten, die von alleine zu ihm kamen. Die Wangen von Tränenspuren gefurcht kamen sie und erkundigten sich, oft beinahe verlegen, in der Spiritistenkirche, wo der Mesner, ein greiser Swedenborgianer von unerschütterlich integerem Wahnsinn die Namen und Adressen notierte und es Herrn M. gestattete, sie aufzusuchen, wenn es ihm beliebte. Er ließ sie gerne ein wenig warten, nicht zu lange, gerade genug, damit sie begriffen, wie schwierig die Unterhandlungen waren, die er führen mußte.
    »Und werden wir sie sehen? Werden wir sie tatsächlich sehen?«
    O ja. Sie wird den großen Abyssos überschreiten und aus dem Drüben zurückkehren, sie wird ihr Lager auf den Asphodeloswiesen verlassen und hier, in diesem Zimmer, sich verkörpern, wenn die Vorhänge zugezogen sind, im Dämmerlicht... sie kann den Sonnenschein nun nicht mehr ertragen, verstehen Sie, noch die künstliche Grelle der Gasbeleuchtung, sie hat ihren eigenen leuchtenden Nebel bei sich.
    Alle jungen Mädchen sehen nach einer langen Krankheit gleich aus. Mignon trug ein bis zum Halse zugeknöpftes weißes Nachthemd und offenes Haar. Die Hinterbliebenen saßen um den runden Mahagonitisch, auf dem die rote Plüschdecke mit den perlenbesetzten Fransen lag. Sie hielten sich an den Händen. Herr M. wirkte solide und verläßlich wie der Filialleiter einer Bank in seiner breit sich spannenden Weste und dem dunkelgrünen Samtjackett, mit seiner öligen Sentimentalität. Bei den Séancen setzte er ein kleines Käppchen auf, bestickt mit arkanen Symbolen. Das hatte ihm seine Tante genäht.
    Die einfachsten Illusionen waren für ihn die besten. Als Hobby jedoch experimentierte er mit verschiedenen optischen Spielereien und Laterna-Magica-Vorrichtungen der raffiniertesten Art. Herr M.

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