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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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geölten Scharnieren zur Seite schwenken. Herr M. ging umher und drehte die Beleuchtung herunter.
    »Es sind nur Mammi und Pappi, mein Kleines, die dich besuchen kommen.« Oder: »Willst du nicht zu deinem Männe kommen? Zurück zu deinem lieben kleinen Mann?« Was immer dem Status des Klienten angemessen war. Sie saßen am Tisch, hielten sich an den Händen und hofften.
    »Komm, wenn ich auf den Tisch klopfe, Kleine.«
    Mignon, in ihrem Nachthemd, schlüpfte hinter dem Bücherregal hervor in den Alkoven. Sie hielt eine elektrische Taschenlampe unter dem Hemd, so daß ihr Umriß leuchtete. So einfach war es. Von unten beleuchtet, von Räucherschwaden eingehüllt, halb verborgen hinter den Spitzengardinen, den vielfingrigen Farnzweigen und der massiven Kamera, hätte sie jedes junge Mädchen sein können.
    Und wenn sie ihre Sehnsucht zu Gesicht bekamen, waren ihre Augen oft tränenblind.
    Sie lächelte. Manchmal hielt sie eine Lilie in der Hand, hinter der sie sich verstecken konnte, wenn die taktvollen Erkundigungen von Herrn M. irgendeine Besonderheit des Gesichtes der Dahingegangenen ergeben hatten - ein Schielen, eine Hasenscharte.
    Ein leichter Luftzug strich durch den Raum und entlockte der Glasharfe hinter ihr süße Klänge.
    Herr M. senkte rasch seinen Kopf unter das schwarze Tuch der Kamera. Im unerwarteten Donner und Blitz des Magnesiums sah Mignons Gesicht für jeden, der es sah, aus wie das genaue Abbild der Verlorenen.
    Wenn der Rauch sich verzog, war sie verschwunden, und Herr M. ging durch das Zimmer und drehte die Gaslampen höher.
    Warum gelang es ihm nur, weibliche Geister heraufzurufen? Weil, ließ er durchblicken - sein tabakduftendes Taschentuch ziehend und sich schneuzend, als einer, der männliche Gefühle auf männliche Weise verbirgt -, weil auch er einst, vor langer Zeit, in entschwundenen Tagen... in einem Reich am Meere... Sie war ein Kind, und ich war ein Kind... Ihr hochgeborener Gevatter kam schließlich und nahm sie mit sich fort, doch Herrn M. gelang es, zu einer Abmachung mit dem hochgeborenen Gevatter zu kommen, unter der Bedingung, daß er nur Geister ihrer Art beschwor: kleine Mädchen.
    Trotz dieser Begründung erschrak Mignon sehr, als er sie das erste Mal photographierte. Sie ging aus Neugier mit ihm in die Dunkelkammer und sah aufgeregt zu, wie sich im Säurebad das Bild wie durch Zauberei auf dem Papier kristallisierte. Dann aber schob sie die Unterlippe hinter ihre ein wenig vorstehenden Vorderzähne: Sie hatte Angst. Denn das Gesicht, das aus der Säure emporschwamm, stieg in gleicher Weise aus ihrem Gedächtnis auf.
    »Mutter...«
    Herr M. zog sie in echtem Mitgefühl an sich.
    »Dumme Zufälle gibt es immer wieder«, entschuldigte er sich.
    In seinem schwarzen Leichenbestatteranzug trug er persönlich die Photographien aus, jede in ein knisterndes Leichenhemdchen aus Seidenpapier gehüllt. Die Geister sind scheu, beschwor er seine Kunden; sie will, daß nur die sie so sehen, die sie am meisten liebt. Zeigen Sie niemand diese Photographien, oder ihr Gesicht verschwindet! Die undeutlichen Züge, die ins Dunkel verschmolzen, waren diejenigen, die Sehnsucht und Phantasie aus ihnen schufen.
    Er rückte an seinem düsteren Zylinder und nahm die Bezeugungen der Dankbarkeit entgegen, die ihm gebührten.
    Mignon stellte die Toten so erfolgreich dar, daß sich Herr M. sogar ein Zeitlang überlegte, ob er ihr über Kost und Logis hinaus ein Gehalt geben sollte, entschied sich aber dagegen, da sie sich etwas ersparen und dann davonlaufen könnte. So lebten sie zusammen ein seltsames Leben, ungesetzlich und respektabel. Es freute ihn, zu entdecken, daß sie ein wenig singen konnte, und oft fragte er sich, ob man nicht ihre frische, ungeübte Stimme irgendwie in den Auftritt einbringen könnte - Engelsstimmen vielleicht? Doch dann dachte er: Die Sache würde zu kompliziert. Und er ließ sie häufig allein, in einem Lehnsessel des Wohnzimmers zusammengekauert und in zusammenhanglose Tagträume versunken, während er in seinem Arbeitszimmer die Probleme der Stetigkeit des Blickes studierte.
    Er konnte es lange so treiben, weil er betrog, aber nicht gierig war und sich stets taktvoll, diskret und sogar freundlich verhielt. Schließlich konnte eine Mutter nicht widerstehen und zeigte die Photographie des toten Lieblings einer älteren Schwester, die den Nachkömmling schon zu Lebzeiten eifersüchtig verfolgt hatte und nun den Gedanken an eine postume Konkurrenz nicht ertrug; sie stahl das

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