Nächte im Zirkus
Porträt und brachte es auf die Polizei. Sich als trauernder Onkel ausgebend, warf ein stämmiger Detektiv die Kamera in eben dem Moment um, als Herr M. den Magnesiumblitz auslöste, und fing Mignon am Zipfel ihres Nachthemds, als sie hastig durch das drehbare Bücherregal verschwinden wollte. Wie sie kicherte! Es war nie mehr als ein Spiel für sie gewesen.
Alles kam auf. Herr M., vernünftig wie immer, legte ein umfassendes Geständnis ab und ließ vor Gericht Mignon in ihrem Nachthemd als unwiderlegbaren Beweis vorführen. Der Skandal brachte unglücklicherweise seine alte Tante ins Grab, aber Herr M. saß nur zwei von sechs Jahren Gefängnis ab, maximaler Straferlaß wegen guter Führung, und machte einige wertvolle Bekanntschaften unter anderen ehrbaren Betrügern, Hochstaplern und Schwindlern. Nach seiner Entlassung zog er sofort in eine andere Stadt, wo er sich nach einigen schwierigen Monaten wieder geschäftlich zu betätigen begann, obwohl er diesmal dem Spiritismus absagte und sich ganz auf Liebhaberphotographien spezialisierte.
Er nahm seine Korrespondenz mit Mr. Paul wieder auf, und sie entwickelte sich so vielversprechend, daß er nach ein, zwei Jahren die Pornographie hinter sich ließ und ins Kinematographengeschäft ging. Er wurde wohlhabend. Nur manchmal, seiner eigenen Skepsis zuwider, spürte er eine kleine Versuchung - nur einmal zu versuchen, den Schleier zu lüften, diesmal wirklich, und ein wenig mit Tantchen zu reden, die er so sehr vermißte.
Doch viele von denen, die Herr M. getäuscht hatte, glaubten sein Geständnis nicht. Sie nahmen die kostbaren Photographien aus den lavendelduftenden Kommodenschubladen, wo sie in einer alten Handschuhschachtel zusammen mit einer Strähne Babyhaar oder vielleicht ein paar klimpernden Milchzähnen lagen, und wie angespannt sie auch die glänzenden Abzüge besahen, sie erkannten nie Mignons Gesicht, sondern sahen das einer anderen und hörten wieder die leise vertraute Stimme, die das Unmögliche verlangte: »Mama! Papa! Nicht weinen!« So könnte man sagen, daß die Beweise für Herrn M.s Vergehen zurückblieben als Zeugnisse völliger Unschuld. O teure Illusion! Und immer noch schläft Mama mit dem Bild unter ihrem Kissen.
Mignon kam straflos davon, es wurde nicht einmal Anklage erhoben, da sie die sichere Verteidigung des nicht verantwortlichen Opfers hatte. Nun hatte sie ein paar nette Kleider, fand eine anständige Stelle in einer anständigen Wirtschaft als Bedienung, hatte ein kleines Zimmer für sich und dankte ihrem Glück. Sie sang auch, wenn der Mann mit dem Akkordeon vorbeikam. Sie liebte es zu singen. Manchmal ging sie mit dem Akkordeonspieler nach Hause, manchmal nicht, sie traf ihre Wahl. Das war ihre beste Zeit, obwohl doch immer etwas Unsicheres an ihr war, etwas Schlaffes und beinahe Angstvolles in ihrem allzuhäufigen Lächeln, daß man beim Anblick von Mignons Glück stets denken mußte: »Es dauert nicht lang.« Sie hatte die etwas fieberhafte Fröhlichkeit eines Wesens ohne Vergangenheit, ohne Gegenwart - und doch existierte sie so ohne Erinnerung oder Geschichte nur, weil ihre Vergangenheit zu schlimm war, um sich daran zu erinnern, ihre Zukunft zu schrecklich, darüber nachzudenken: Sie war die geknickte Blüte der Gegenwart.
Eines Samstagabends kam ein Herr im Abendanzug unter einem eleganten rotgefütterten Cape in die Bar, Hand in Hand mit einer Miniaturausgabe seiner selbst, von den Füßen abgesehen, denn diese kleine Gestalt - untersetzt, ein wenig langarmig - konnte in keinem Schuhgeschäft der Welt Schuhe finden, die ihm gepaßt hätten. Sie setzten sich an einen Ecktisch, und Mignon lief voller Neugier hinüber, um sie zu bedienen. Die kleine Person hatte ihr glattes, schwarzes Haar mit einem strengen Mittelscheitel gekämmt. Mit zeremonieller Feierlichkeit zog er die Nelke aus seinem Knopfloch und reichte sie Mignon. Sie brach in Gelächter aus. »Kränken Sie seine Gefühle nicht«, sagte der Affen-Mann mit charmantem französischem Akzent. Mignon nahm die Blume und steckte sie sich ins Haar.
Der Affen-Mann bestellte eine Flasche Wein, und Mignon erbat sich eine Banane in der Küche. »Mein Freund und Kollege - der Professor. Geben Sie der hübschen Dame einen Kuß, Professor.« Der Professor untersuchte bereits die Banane, aber nun legte er sie sorgfältig auf den Teller zurück, stellte sich auf seinen Stuhl, lehnte sich über den Tisch, legte die Arme um Mignons Hals und gab ihr einen schmatzenden, kitzelnden
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