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Nächte in Babylon

Nächte in Babylon

Titel: Nächte in Babylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Depp
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Speck hermachten, während sie sich mit einer Tasse Kaffee begnügen musste. Da sie keine Ahnung hatte, was sie erwartete, versuchte sie lieber, erst gar nicht daran zu denken. Es würde schon nicht so schlimm werden. Aber ihr graute davor, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden und ihre Ansichten gegenüber einer Horde europäischer Intellektueller verteidigen zu müssen. Sich einen Film anzusehen, war eine Sache, darüber zu reden, eine völlig andere. Es war absurd, dass sie in der Jury saß, und sie hätte sich niemals dazu breitschlagen lassen dürfen. Sie würde sich bis auf die Knochen blamieren, aber für einen Rückzieher war es zu spät.
    Wenigstens würde Spandau sie begleiten, sie hatte darauf bestanden. Er musste zwar bei den Sitzungen draußen bleiben, aber sie durfte ihn zu den Vorführungen mitnehmen, solange sie mit ihm nicht über die Filme redete.
    Das Treffen begann um neun. Um acht wurden sie von Thierry, ihrem Fahrer, mit der Limousine abgeholt. Gemächlich ging es den Berg hinunter und hinein in die Stadt, die eben erst lebendig wurde. Dass ihnen zwei von Vignons Männern in einem anderen Wagen folgten, trug nicht gerade dazu bei, dass Spandau sich weniger überflüssig vorkam. Noch war der Verkehr erträglich, doch das würde sich bald ändern. Da sich die Einwohnerzahl von Cannes während der Festspiele verdoppelte, war das Autofahren in dieser Zeit ein einziger Alptraum. Thierry kam zügig durch, und um 8.40 Uhr fuhren Anna und Spandau im Aufzug des Carlton nach oben.
    »Ich bin fix und fertig mit den Nerven«, sagte Anna, als sie vor der Suite des Juryvorsitzenden standen. »Was hab ich mir bloß dabei gedacht?«
    »Sie schaffen das schon«, antwortete er.
    »Und was machen Sie solange?«
    »Ich warte unten. Vielleicht setze ich mich an den Pool und gaffe die nackten Frauen an, wie man es von einem echten Amerikaner erwartet. Und ich habe ein Buch dabei. Wenn Sie mich brauchen, lassen Sie es mich wissen.«
    »Drücken Sie mir die Daumen.«
    Fünf der sieben Jurymitglieder waren bereits eingetroffen, als sie die Suite betrat.
    Albert Carrière, der Vorsitzende, war ein renommierter französischer Fernsehfeuilletonist. Er sah nicht nur aus wie Baron Philippe Rothschild, er kleidete sich auch so: legerer Pullover in hellen Farben und teure Krawatte. Er war nicht der klügste Kopf im Raum, aber das einzige Jurymitglied, das nach blauem Blut aussah, weshalb nur er für den Vorsitz infrage kam.
    Auf dem Sofa fläzte sich der italienische Romancier und Literaturkritiker Beppo Contini, der nicht nur einen buschigen, dunklen Schnurrbart vor sich her, sondern auch eine dauerverwirrte Miene zur Schau trug. Obwohl er, wenn man ihn näher kannte, ein netter, lustiger Mensch war, schrieb er schwer linkslastige Romane und vernichtende Rezensionen. Hinter vorgehaltener Hand wurde er nur »Stalin« genannt, auch wenn sich niemand mehr daran erinnerte, ob der Spitzname auf seinen Schnauzer oder auf seine Kritiken gemünzt war.
    Neben ihm auf dem Sofa – und mit ihm ins Gespräch vertieft – saß die deutsche Regisseurin Tilda Frobe, eine zarte Person mit einem wuchtigen schwarzen Brillengestell und dicken Gläsern. Tilda lachte nie, Tilda lächelte nie. Sie war genauso todernst wie ihre Filme, die sie zu ihrer eigenen Belustigung als Komödien bezeichnete. Sie wurde international von all jenen Zirkeln in den Himmel gehoben, in denen die nichtkomödiantische Komödie höchstes Ansehen genießt.
    »Stalin und sein Äffchen«, flüsterte Marc Pohl in Annas Richtung.
    Der Franzose Pohl war Journalist und wurde als einer der größten lebenden Philosophen des Landes gehandelt, was nicht nur deshalb schwer zu glauben war, weil er wie Alain Delon aussah, sondern auch, weil ihm die Haare bis auf die Schultern wallten und er sein Hemd bis zum Bauchnabel aufgeknöpft trug. Sein warmer Atem kitzelte Anna im Nacken. Es war eine Spezialität von ihm, sich von hinten so dicht an eine Frau heranzupirschen, dass diese Angst haben musste, im nächsten Moment seine Zunge im Ohr zu haben. Zuzutrauen war ihm das durchaus. Anna war ihm schon ein paarmal über den Weg gelaufen. Seine philosophischen Schriften kannte sie nicht, aber dafür seine Zunge. Auf einer Party hatte sie den Fehler gemacht, mit ihm zu flirten. Sie war schon fast so weit gewesen, mit ihm ins Bett zu steigen, als er sie wie eine Schlange angezügelt hatte. Das darauf folgende Kreischen und den Kicheranfall hatte er ihr bis heute nicht ganz

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