Naechtliches Schweigen
nicht mit einer Lawine, die schon ausgelöst worden war. Nicht vor Beendigung der Tournee.
Emma achtete nicht sonderlich auf die Proben. Sie kannte alle Lieder schon in- und auswendig. Die meisten stammten von Papas Album, und die anderen waren damals in Kalifornien aufgenommen worden.
Es schmerzte zu sehr, an Darren zu denken, also vermied Emma dies tunlichst. Doch dann überschwemmte sie ein jämmerliches Schuldgefühl, weil sie versuchte, Darren aus ihren Gedanken zu verbannen.
Außerdem vermisste sie Charlie. Den hatte sie in London zurückgelassen, in Darrens Bettchen. Hoffentlich kümmerte sich Bev um ihn. Und vielleicht würde eines Tages, wenn sie nach Hause zurückkehrte, Bev auch wieder mit ihr sprechen und lachen, so wie früher.
Zwar hatte Emma keine rechte Vorstellung von der Bedeutung von Buße, aber sie fühlte instinktiv, dass es richtig war, Charlie zurückzulassen.
Und dann die Schule. Sie war sicher, dass der Aufenthalt an diesem Ort, so weit entfernt von all ihren Lieben, ihre Strafe dafür war, dass sie nicht, wie versprochen, auf Darren aufgepasst hatte.
Erinnerungen an frühere Strafen kamen auf, an Schläge, an Schreie. Das war einfacher zu ertragen, erkannte sie nun, den mit den Schlägen war auch die Strafe vorüber. Ihre augenblickliche Verbannung hingegen erschien endlos.
Papa bezeichnete das nicht als Strafe. Er behauptete, sie müsse eine gute Schule besuchen und fleißig lernen. Dort wäre sie auch in Sicherheit. Und dann diese Männer, die sie beschützen sollten! Emma hasste sie. Große, wortkarge Männer mit gelangweilten Augen, die Johnno und den anderen in keiner Weise ähnelten. Wie gerne wäre sie mit ihnen von Stadt zu Stadt gereist, hätte sogar das Fliegen in Kauf genommen. Sie hätte gerne in Hotels gewohnt, sich auf die Betten gelümmelt und per Zimmerservice Tee bestellt. Statt dessen musste sie zurück zur Schule, zurück zu den Nonnen, die zwar freundliche Augen, jedoch harte Hände hatten, zurück zu Morgengebeten und Grammatiklektionen.
Ihr Vater stimmte »Soldier Blues< an, ein weiterer Song über den Krieg; harte Worte, hervorgehoben durch noch härtere Rhythmen. Warum berührte das Lied sie so? Doch als Johnno mit einfiel, hob sie ihre Kamera.
Sie liebte das Fotografieren. Dass die Kamera viel zu kostspielig und für ein Kind ihres Alters schwierig zu handhaben war, kam ihr nicht in den Sinn. Genausowenig wie ihr der Gedanke gekommen war, dass das Geschenk gewissermaßen als Wiedergutmachung gedacht war; Wiedergutmachung dafür, dass Brian sie in diese düstere Schule gesteckt hatte.
»Emma.«
Sie drehte sich um und erblickte einen großen, dunklen Mann. Er gehörte nicht zu den Leibwächtern, aber sein Gesicht war ihr irgendwie vertraut. Dann kam die Erinnerung. Sie lächelte ein wenig. Er war freundlich besorgt gewesen, als er sie im Krankenhaus besucht hatte, und sie hatte sich nicht geschämt, an seiner Schulter zu weinen.
»Erkennst du mich wieder?« wollte Lou wissen.
»Ja. Sie sind der Polizist.«
»Genau.« Er legte dem Jungen an seiner Seite die Hand auf den Arm und versuchte, dessen Aufmerksamkeit von der Band abzulenken. »Das ist Michael. Ich hab' dir ja von ihm erzählt.«
Emma lächelte stärker, war jedoch zu schüchtern, um ihn nach der Rollschuhfahrt auf dem Dach zu fragen. »Hallo.«
»Hi.« Er gönnte ihr nur einen flüchtigen Blick, ehe seine Augen zu den vier Männern in der Mitte des Raumes zurückkehrten.
»Wir brauchen die Trompeten«, forderte Brian und befahl eine Pause. »Ohne die kriegen wir nicht den vollen Sound.« Sein Herz stand beinahe still, als er registrierte, wer da neben Emma stand. »Lieutenant.«
»Mr. McAvoy.« Mit einem warnenden Blick zu seinem Sohn ging Lou auf Brian zu. »Ich bedaure, Ihre Proben zu unterbrechen, aber ich muss noch einmal mit Ihnen sprechen. Und mit Ihrer Tochter, wenn es geht.«
»Haben Sie...?«
»Nein, nichts, was Sie nicht bereits wissen. Aber könnten Sie ein paar Minuten erübrigen?«
»Natürlich. Leute, ihr könnt essen gehen. Ich komme dann später.«
»Ich könnte hierbleiben«, bot Johnno an.
»Nein.« Brian klopfte ihm flüchtig auf die Schulter. »Danke.«
Emma bemerkte den Ausdruck in Michaels Augen. Der gleiche Glanz hatte in den Augen ihrer Schulkameradinnen gelegen, als sie herausbekommen hatten, wer ihr Vater war. Ihre Lippen kräuselten sich ein wenig. Ihr gefiel sein Gesicht, die leicht gekrümmte Nase, die klaren grauen Augen.
»Möchtest du sie
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