Naechtliches Schweigen
hätt ich's vergessen.« Marianne kramte in den Taschen der zerknitterten Schuluniform und förderte ein Päckchen Marlboro zutage. Dann suchte sie nach Streichhölzern. »Irgendwer hat die hinter den Spülkasten im Klo gesteckt.«
»Und du hast sie mitgenommen.«
»Klar. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Und ich hab' mir selbst geholfen. Mach die Tür zu, Emma.«
Sie teilten sich eine Zigarette und bliesen kleine Rauchwölkchen aus dem Fenster. Keiner von beiden schmeckte sie besonders, dennoch qualmten sie beide weiter. Es wirkte so erwachsen und galt zudem als Sünde.
»Noch zwei Wochen«, träumte Emma vor sich hin.
»Du fliegst nach New York. Und mich schicken sie wieder ins Ferienlager.«
»Halb so schlimm. Da gibt es keine Schwester Immaculata.«
»Das ist doch schon was.« Marianne bemühte sich um eine blasierte Pose. »Vielleicht kann ich meine Leute überreden, mich für ein paar Wochen zu meiner Großmutter zu lassen. Die Frau ist schwer in Ordnung.«
»Und ich werde jede Menge Bilder machen.«
Marianne nickte. Sie dachte bereits weiter. »Wenn wir hier rauskommen, nehmen wir uns ein Apartment, vielleicht in Greenwich Village oder L. A. Irgendwo, wo's cool ist. Ich werde Malerin und du Fotoreporterin.«
»Dann geben wir Partys.«
»Und was für welche! Und wir können die ausgeflipptesten Klamotten tragen.« Sie wies verächtlich auf ihre Schuluniform. »Nichts Kariertes!«
»Lieber sterben!«
»Nur noch vier Jahre...«
Emma starrte aus dem Fenster. Es fiel schwer, in Jahren zu denken, wenn sie noch nicht einmal wusste, wie sie die nächsten zwei Wochen überstehen sollte.
Auf der anderen Seite des Kontinents studierte Michael Kesselring sein Spiegelbild. Er konnte es kaum glauben. Es war endgültig vorbei. Die Schule lag hinter ihm, und das Leben wartete. Natürlich gab es da noch das College, aber erst mal kam der Sommer.
Achtzehn war er jetzt; alt genug, zu trinken und zu wählen. Dank Präsident Carter wurden seine Zukunftspläne nicht vom Militärdienst getrübt.
Wie immer die auch aussehen mochte, dachte er.
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Sein Aushilfsjob in Buzzard's Tee Shirt Shop brachte genug Geld für Benzin und gelegentliche Verabredungen, aber er hatte gewisse nicht die Absicht, sein Leben mit dem Bedrucken von T-Shirts zu verbringen. Nur was er eigentlich tun wollte, das war ihm noch immer schleierhaft.
Irgendwie fand er es beängstigend, die Schultracht abzulegen, so, als würde er gleichzeitig auch seine Jugend abstreifen. Michaels Blick schweifte durch das Zimmer. Es war vollgestopft mit Kleidern, Erinnerungsstücken, Schallplatten und, seit seine Mutter es aufgegeben hatte, hier sauberzumachen, auch mit einer Sammlung von Playboy- Heften. Da hingen die Urkunden, die er für seine Leistungen in Leichtathletik und Baseball erhalten hatte. Dieselben Urkunden, erinnerte er sich, die Rose Anne Markowitz dazu bewogen hatten, auf den Rücksitz seines alten Pinto zu klettern und es zu der Musik von Joe Cocker mit ihm zu treiben.
Die Natur hatte ihn mit einem athletischen Körper, langen Beinen und guten Reflexen ausgestattet. Genau wie sein Vater, pflegte seine Mutter zu sagen. Michael nahm an, dass er in vieler Hinsicht auf seinen alten Herrn herauskam, obwohl ihre Beziehung von häufigen Auseinandersetzungen geprägt war. Über Haarlänge, Kleidung, Politik und die Frage, wann er abends zu Hause zu sein hatte. Captain Lou Kesselring war ein echter Pedant.
So waren Cops nun mal, vermutete Michael. Einmal war er so unvorsichtig gewesen, einen einzigen Joint ins Haus zu schmuggeln. Das hatte ihm einen Monat Hausarrest eingetragen. Ein paar lumpige Aufputschpillen zogen die gleiche Strafe nach sich.
Gesetz blieb Gesetz, wie der alte Lou gerne sagte. Zum Glück hatte Michael selbst nicht die leiseste Absicht, zur Polizei zu gehen.
Er riss die Quaste von seiner Kappe ab, ehe er sie zusammen mit seiner Schultracht auf das ungemachte Bett warf. Vielleicht war es eine sentimentale Handlung, die Quaste aufzubewahren, aber das brauchte ja keiner zu erfahren. Michael wühlte in seinem Kleiderschrank und fand die alte Zigarrenkiste, die seine wertvollsten Besitztümer enthielt. Den Liebesbrief, den Lori Spiker ihm in seinem ersten Jahr an der Schule geschrieben hatte - ehe sie ihn wegen eines Typen mit Harley und Tätowierungen fallen ließ. Die Eintrittskarte für ein Konzert der Rolling Stones. Die Erlaubnis zu diesem Konzertbesuch
Weitere Kostenlose Bücher