Naechtliches Schweigen
leid, Sie bei der Arbeit zu stören.«
Sein Mund wurde trocken. Es war verrückt. Lächerlich. Das konnte nicht sein. Diese Stimme - sie war ihm jahrelang nicht mehr aus dem Kopf gegangen, hatte ihn nicht mehr losgelassen. Als er sah, dass die junge Frau sich auf die Lippen biss, gab er sich einen Ruck und lächelte sie an.
»Hi, Emma. Hast du in der letzten Zeit ein paar anständige Wellen erwischt?«
Ihre Lippen öffneten sich erst überrascht, doch dann zeichnete sich die Freude des Wiedersehens deutlich in ihrem Gesicht ab. »Michael!« Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen. Der Gedanke trieb ihr das Blut in die Wangen, so streckte sie ihm nur die Hand hin. »Es tut gut, dich zu sehen.«
Seine Hand lag hart in der ihren und fühlte sich feucht an. Michael gab sie frei und wischte sich die Handfläche an seiner verwaschenen Jeans ab. »Du... du bist nie mehr zum Strand gekommen.«
»Nein.« Ihr Lächeln verflog. »Ich habe auch nie richtig Wellenreiten gelernt. Ich wusste nicht, dass du noch zu Hause wohnst.«
»Das tue ich auch nicht. Ich habe nur eine Wette verloren, so kriegt mein alter Herr ein paar Wochen lang einen kostenlosen Gärtner frei Haus.« Er wusste nichts mehr zu sagen. Sie sah so hübsch aus, so zerbrechlich, wie sie da in ihren teuren italienischen Pumps auf dem Rasen stand und ihr hellblondes Haar leicht im Wind wehte. »Wie ist es dir denn so ergangen?« fragte er schließlich unsicher.
»Gut. Und dir?«
»Geht so. Ich hab' ab und zu Bilder von dir in der Zeitung gesehen. Warst du nicht in so einem Wintersportort?«
»Sankt Moritz.«
»Kann sein.« Ihre Augen waren noch genau wie früher, dachte er; groß, blau und traurig. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. »Willst du hier irgendjemanden besuchen?«
»Nein. Oder doch. Eigentlich...«
»Michael.« Seine Mutter erschien in der Tür. »Willst du deiner Freundin nicht eine Erfrischung anbieten?«
»Doch, natürlich. Hast du ein paar Minuten Zeit?« fragte er, an Emma gewandt.
»Ja. Ich habe gehofft, kurz mit deinem Vater sprechen zu können.«
Michaels Hoffnungen zerplatzten wie ein Luftballon. Wie war er nur auf den Gedanken gekommen, sie sei seinetwegen hier? »Dad ist im Haus.« Er lächelte gequält. »Wahrscheinlich platzt er vor Schadenfreude.«
Emma folgte ihm zur Tür, die Marge offengelassen hatte. Mittlerweile hielt sie ihr Täschchen so krampfhaft umklammert, dass eine ungeheure Willensanstrengung vonnöten war, um diesen Griff wieder zu lockern.
Der Weihnachtsbaum prangte schon in vollem Schmuck, wie sie bemerkte. Ordentlich verpackte Geschenke lagen darunter, und das Haus war von Tannenduft erfüllt.
Emma nahm ihre Sonnenbrille ab und spielte nervös mit den Bügeln, während sie sich im Zimmer umsah.
»Setz dich doch.«
»Danke. Ich bleibe auch nicht lange. Ich will euch nicht das Wochenende verderben.«
»Klar, ich hab' mich schon die ganze Woche darauf gefreut, endlich den Rasen mähen zu dürfen.« Michael grinste und wies auf einen Sessel. »Ich hole meinen Vater.«
Noch ehe er das Zimmer verlassen konnte, kam Marge mit einem Tablett herein, auf dem ein Krug Eistee, Gläser und eine Platte selbstgebackener Plätzchen standen. »So, da bin ich wieder. Michael, knöpf dir das Hemd zu«, mahnte sie beiläufig, als sie das Tablett auf dem Kaffeetisch abstellte. »Schön, dass mal eine von deinen Bekannten hereinschaut.«
»Emma, das ist meine Mutter. Mom, Emma McAvoy.«
Marge erkannte das Mädchen sofort wieder. Bemüht, weder Sympathie noch Faszination zu zeigen, sagte sie freundlich: »O ja, natürlich. Ich habe immer noch den Zeitungsausschnitt - wo du mit Michael am Strand bist.«
»Mom...«
»Eine Mutter hat gewisse Vorrechte. Schön, dich zu sehen, Emma.«
»Danke. Entschuldigen Sie, dass ich einfach so hereingeschneit bin.«
»Unsinn. Michaels Freunde sind hier immer gern gesehen.«
»Emma wollte eigentlich zu Dad.«
»Ach so.« Die Missbilligung in Marges Blick verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Er ist hinten und vergewissert sich, dass Michael keinen seiner Rosenbüsche umgepflügt hat. Ich werde ihn holen.«
»Einen einzigen Rosenbusch - und da war ich zwölf.« Michael stopfte sich ein Plätzchen in den Mund. »Und seitdem traut man mir nicht mehr über den Weg. Probier mal, Mom macht die besten Plätzchen überhaupt.«
Aus Höflichkeit nahm Emma eines, obwohl sie fürchtete, ihr Magen würde es nicht behalten. »Schön habt ihr's hier.«
Ihm fiel sein
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