Naerrisches Prag
und Melantrichgasse heißt und wohl stets so hieß, was von vielen anderen bekanntlich nicht gesagt werden kann, gab es in meinen jungen Jahren einen Anziehungspunkt, dem ich nur selten widerstehen konnte, der mich im Gegenteil sehr oft gerade hierher steuerte. Auf dem Gehsteig vor den respektablen Häusern saßen da auf niedrigen Schemeln oder auch nur auf umgestülpten Eimern ein oder zwei Frauen. Sie waren zumeist in dunkle Tücher gehüllt, und vor jeder stand ein mittelgroßes Faß, aus dem es schon von weitem verführerisch sauer-süß duftete. Schnell gegorene Gurken! In der kurzen Zeit, in dersie auch in verschiedenen anderen Straßen der Stadt, für mich jedoch vor allem in der Altstädter Melantrichgasse, angeboten wurden, führten alle meine Wege durch Prag, wohin auch immer sie ausgerichtet waren, mit Sicherheit gerade hierher. Man durfte mit einer Holzzange selbst in dem Bottich fischen, ein größeres oder kleineres Stück wählen, wurde auf Wunsch mit einem Blatt festen Papiers ausgestattet, zahlte einen lächerlichen Preis und ging schmatzend und schlurfend mit dem sauer-süßen Leckerbissen in der Hand weiter. Auf besondere Weise erfrischt und für den Rest des Tages auch gut gestimmt. Ich weiß nicht, ob die sorgfältig und sachkundig eingelegten Gurken eine solche Wirkung erzielen konnten oder ob der kleine Ausreißer aus dem städtischen Getriebe in die dörfliche Tradition die gute Laune hervorrief. Mir erging es jedenfalls so, und schon allein das machte die Melantrichgasse zu einer meiner Lieblingsstraßen.
War es ein Zufall, daß ich mit neunzehn Jahren meine erste selbständige Behausung nach längerem vergeblichen Suchen gerade hier fand? Oder hat es schon damals ein guter Hausengel für mich so eingerichtet? Wie auch immer: Bis zur Okkupation der Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland und zu meiner dann unerläßlich gewordenen Flucht aus Prag lebte ich in der »Melantriška«, und auf dem Gehsteig gegenüber meinem Wohnhaus ließen sich in den späten Sommerwochen regelmäßig die Frauen mit ihren Gurkenfässern nieder. Auf diese Weise wurden sie zu meinen stets freudig erwarteten zeitweisen Nachbarinnen.
Dann rollten die Kriegsjahre über uns alle hinweg, und nach meiner Rückkehr aus dem Exil verschlug es mich, wie schon gesagt, an ein anderes Ende von Prag. Auch diesauer-süßen Gurken ließen sich nicht mehr an ihrem alten Stammplatz sehen. Um die nächste Ecke gibt es jetzt nämlich einen überschwenglich gut versorgten Gemüsemarkt. Ich habe nicht nachgeforscht, ob die Schnellgegorenen dort für ihre kurze Saison unter den ungezählten einheimischen, aber auch exotischen Gaben der Natur eine Aufenthaltsbewilligung erhalten haben. Tempora mutantur!
Gewiß, die Zeiten ändern sich. Und so wollte ich wissen, was aus dem Haus Nr. 7 geworden ist, in dem ich einst zu Hause war. Es interessierte mich natürlich auch, wer jetzt in meiner damaligen Mansarde unter dem Dach wohnt.
Neben dem schmalen Hauseingang gab es in der Vorkriegszeit einen Fleischerladen. Als im August des Jahres 1968 Sowjetpanzer in die ganze Stadt eindrangen, um den politischen »Prager Frühling« niederzuwalzen, wobei sie den Altstädter Ring lückenlos besetzten und an den Türen der Geschäfte ringsum Zettel mit der Bekanntmachung »Vorübergehend geschlossen!« erschienen, kam etwa am zweiten Morgen nach der Invasion eine Mitarbeiterin unserer Zeitschrift »Im Herzen Europas«, eine Fotografin, in die Redaktion gestürzt und rief schon von der Treppe:
»Mädchen, los! Auf dem Altstädter Ring ist noch ein Laden offen. Sie haben dort einen ganzen Stapel hübscher weißer Leinenblusen mit blauen oder roten Tupfen im Regal, verkaufen sie ganz billig. Beeilt euch, jetzt wird es ja bald nichts mehr geben.«
Die Redaktion befand sich in unmittelbarer Nähe des Platzes, und so brach ihre gesamte weibliche Belegschaft gleich auf. Auch ich ergatterte ein Exemplar mit blauenPunkten. Das Stück ist derart solid, daß es mich trotz ungezählter Wäschen bis heute nicht verlassen hat, zu einer Invasionsreliquie geworden ist.
Die eilige Bluseneroberung in letzter Minute brachte mich an die Ecke der Melantrichgasse. Dort überfiel mich plötzlich die Angst, das Haus Nr. 7, in dem ich längst nicht mehr wohnte, hätte beim Einmarsch der Okkupationsarmee Schaden erlitten haben können. Die Straße ist sehr eng.
Ich atmete auf, als ich feststellte, daß unsere »Melantriška«, wie sie seit eh und je von den Pragern
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