Naerrisches Prag
Sand verscharren, und dabei standen schon die Aasgeier am Himmel. Kaum zogen die Menschen weiter, wollten sie auf die Leiche hinabstoßen. Um das zu verhüten, bedeckten die Juden ihre Toten mit Steinen.«
Er machte eine Pause, heftete den Blick auf den fest gepflasterten Weg unter seinen Füßen, schien schmerzlichen Gedanken nachzuhängen. Nach einem Weilchen schüttelteer seinen mit einem schwarzen Samtkäppchen bedeckten Kopf, strich mit der mageren Hand über die Augen, als wollte er etwas wegwischen, und setzte schließlich seine Ausführungen fort:
»Es gibt, glaube ich, keine solche Vorschrift, aber im Gedenken an jenen Leidensweg und an alle unsere Toten, die Begrabenen und die ... Also wir bringen keine Blumen mit, die gab es ja auch in der Wüste gar nicht, wir legen nur bei jedem Besuch ein Steinchen auf das Grab unserer Lieben.«
»Blumen wären ja in der Hitze auch gleich verwelkt«, meinte der Hemdsärmelige sachlich, wollte vielleicht wieder sein Verständnis oder gar seine Zustimmung zu einem derartigen Vorgehen bekunden. »Und weiß man überhaupt, wo diese Gräber in der Wüste sind? Hat man sie in späteren Zeiten gefunden?«
»Nein, mag sein das eine oder andere. Jüdische Gräber sind auch anderswo und in viel späteren Zeiten spurlos verschwunden.«
»Richtig. Ich sagte ja schon: Verbrecher gibt es auf der ganzen Welt. Hinter meinem Heimatdorf in Mähren ist auch so ein Friedhof weggekommen«, bemerkte der Mann auf der Steinumrandung, »war sehr alt und wahrscheinlich ist kein Mensch mehr dorthin gegangen. Er stand aber niemandem im Weg, man hätte ihn ruhig dalassen können.«
»War aber ein jüdischer Friedhof.« Der Alte neben mir seufzte traurig. »Wir werden immer verfolgt, immer und überall.«
»Bei uns auch? Nach dem Krieg doch nicht mehr.«
»Was glauben Sie, wie oft hier schon vandaliert wurde und ich mir Drohungen anhören muß.«
»Von Deutschen?«
»Nein, das ist schon vorbei. Jetzt sind es unsere jungen Leute, solche kahlköpfigen und verrückt bemalten.«
»Die krakeelen auch beim Fußball«, der Mann in Hemdsärmeln wußte offenbar, worum es ging, »überall dasselbe Gesindel.«
»Eben«, sagte der Alte traurig und seufzte noch einmal.
Der Besucher ohne Kopfbedeckung erhob sich, kam langsam zu uns herüber, und es schien beinahe, als wolle er dem betagten Juden die Hand schütteln. Im letzten Augenblick zögerte er jedoch und sagte nur:
»Wenn ich das nächstemal herkomme, können Sie mir ruhig so ein Mützchen aufsetzen. Ich weiß ja jetzt warum. Und ich bringe auch ein paar Steinchen mit, hier auf den Asphaltwegen findet man ja kaum welche.«
Damit nickte er dem alten Mann zu, machte in meine Richtung die komische Andeutung einer leichten Verbeugung und durchschritt aufrecht das Gittertor.
»War doch ein anständiger Mensch«, murmelte der Alte neben mir und schaute ihm nachdenklich nach. »Zuerst sah er gar nicht danach aus. Man täuscht sich halt manchmal, aber oft leider nicht.«
Von der Hauptallee erklang Stimmendurcheinander. Meine Journalisten kamen von ihrem Rundgang zurück.
»Lassen Sie sich wieder einmal bei uns blicken«, sagte der Alte, als ich mich von ihm verabschiedete. »Nur mit den Toten ist es hier recht einsam.«
Beim Rückweg vom Friedhof schwärmten die Journalisten geradezu von der außerordentlichen Atmosphäre, die sie dort umfangen hatte. Ich schwieg.
»Wo gibt es das sonst?« überlegte einer der älteren Kollegen. »Ich war ja nicht zum erstenmal auf so einemFriedhof, aber daß zwischen den Gräbern Erdbeeren reifen und im Herbst sogar, wie uns jemand erzählte, die gelben Köpfchen von Pfifferlingen aus dem Gras glänzen, und daneben sind auf vielen Steinen die Namen von Holocaust-Opfern festgehalten – das gibt es wahrscheinlich kaum sonstwo.«
»Hier ist aber auch Franz Kafka begraben«, fiel ihm einer der Jüngeren ins Wort. »Wir sind schließlich in Prag, da kann mich eigentlich nichts verwundern.«
Und dabei, summte es in meinem Kopf beim Zuhören, dabei wißt ihr alle trotz eurer Achtung gebietenden Informiertheit und Weltgewandtheit nicht, daß in dieser Stadt eine Erscheinung herumspukt, die gleichzeitig an drei Tischen sitzt, keinen Namen hat, auch keine Definition oder Interpretation zuläßt, nur der stumme Zeuge hier oft verwunderlichen und schwer erklärbaren Geschehens ist, schon immer hier war und hoffentlich auch immer hier sein wird.
In der kurzen Straße, die geradenwegs vor das Altstädter Rathaus führt
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