Naerrisches Prag
dergleichen suche man in Prag-Strašnice. Gewiß, auch hier liegen zu ihren Lebzeiten respektierte Bankiers und Industrielle, jedoch neben schlichten Bürgern, neben Künstlern und Gelehrten, von denen manch einer berühmt war und ist – Franz Kafka zählt zu ihnen – und sehr viele keinen leichten Lebensweg hatten.
Einmal begleitete ich an einem Sommertag ein paar Journalisten, die bei mir zu Besuch waren, an diese Ruhestätte, von deren legendärer Atmosphäre sie schon allerhand gehört hatten. Sie wollten sich hier deshalb gründlich und ohne Zeitbedrängnis umsehen. Um sie in keinerlei Weise zu beeinflussen, ließ ich sie ihren Rundgang allein antreten und blieb gleich beim Eingang auf einer Bank vor dem kleinen Häuschen sitzen, in dem jetzt in einem Computer die Namensverzeichnisse der hier Bestatteten gespeichert sind. Ein hagerer älterer Mann, der in dem bescheidenen Büro offenbar diese Arbeit verrichtet, guckte aus der Tür, sah mich auf seiner Bank sitzen, trat heraus und setzte sich stillschweigend neben mich.
»Guten Morgen. Arbeiten Sie schon lange hier?« fragte ich nach ein paar Minuten, wollte mit dem Alten ein Gespräch anknüpfen.
»Ja, ziemlich lange«, seufzte er.
»Ist der Dienst schwierig?« staunte ich.
»Nicht immer, aber manchmal sehr. Am schlimmsten an Sonntagen.«
»An Sonntagen?« Meine Verwunderung hielt an. »Kommen da so viele Menschen?«
»Gar keine.« Er seufzte erneut.
»Ja aber ...«
»Da bin ich ganz allein hier.«
Der Mann war auffallend hager, in seinem Gesicht war auch viel Leid eingeprägt. Er sah recht müde aus.
Ich ließ einige Minuten verstreichen. »Was geschieht an den Sonntagen?« fragte ich dann.
Es folgte ein weiterer Seufzer.
»Hat man Sie hier überfallen?« fiel mir plötzlich ein, weil er sein Alleinsein betont hatte. »Man liest so etwas oft in den Zeitungen.«
»Na sehen Sie«, er wurde mit einemmal ganz lebhaft, »dort«, und er wies mit der Hand auf das kleine Gebäude hinter seinem Pförtnerhäuschen, »dort ist unser Verlag Serfer untergebracht. Die sind aber an Sonntagen nicht da, auch kein Gärtner oder sonstige Angestellte, nur ich. Schon zweimal sind hier einige krawallierende Burschen eingedrungen, haben mich häßlich beschimpft, versuchten, die Gedenksteine für die jüdischen Kriegsgefallenen da drüben zu beschmutzen, und ich war wehrlos und ganz allein.« Er schüttelte bekümmert den grauen Kopf.
»Haben Sie nichts zu Ihrer Verteidigung bei sich? Ich meine einen Spray oder so etwas.«
»Aber ja. So irgendeine Spritze hat man mir gegeben. Die hatte ich, als es losging, im Schreibtisch und nicht in der Hosentasche und wollte die Kerle auch nicht ... Halt«, rief er plötzlich, »Sie dort!«
Durch das große Gittertor war ein Mann eingetreten, ein untersetzter Mann in Hemdsärmeln, und steuerte auf die Hauptallee zu.
»Sie müssen Ihren Kopf bedecken«, rief ihm der Alte neben mir zu und erhob sich, »sonst können Sie nicht weitergehen.«
»Was ist das für ein Unsinn?« entgegnete der Mann, blieb stehen und schaute sich verblüfft und auch sichtlich erbost um. »Warum soll ich meinen Kopf bedecken? Was kümmert Sie mein Haupt? Lassen Sie mich in Frieden.« Und er wollte seinen Weg fortsetzen.
Überraschend schnell trat der Alte vor ihn. »Nichts zu machen«, erklärte er. »So lautet unsere Vorschrift, und die muß eingehalten werden. Kommen Sie, ich leihe Ihnen eine Jarmulka, das ist so ein Papierkäppchen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, schnaufte der Mann, jetzt schon gereizt. »Ich brauche Ihre Maskerade nicht, bin auch nur hergekommen, um mich ein bißchen an die Sonne zu setzen. In Ruhe, dachte ich! Auf Ihre irrsinnigen Vorschriften huste ich, die gehen mich nichts an.«
»Sie wollten sich hier sonnen?« staunte ich, versuchte dem Alten beizustehen, der sich erregt und leicht zitternd auf die Bank neben mich fallen ließ. »Auf einem Friedhof?«
»Na und? Die Sonne ist ja zum Glück auch nicht bedeckt.« Der Mann ließ sich auf der Umrandung eines der Gedenksteine für die Gefallenen nieder. »Ich muß, wenn Sie das beruhigt, gar nicht weitergehen und bleibe einfach hier. Aber so wie ich bin, mit Ihren Dummheiten kommen Sie bei mir nicht an. Den Kopf bedecken, bei dieser Hitze!«
Er wischte mit dem Taschentuch über sein rundes Gesicht und hielt es dann der Sonne entgegen. Der Alte neben mir beruhigte sich ein wenig.
»Von mir aus. Aber auf den Friedhof dürfen Sie so auf keinen Fall.«
Der Mann blieb mit
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