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Naerrisches Prag

Naerrisches Prag

Titel: Naerrisches Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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geschlossenen Augen sitzen, ohne zu reagieren. Es ergab sich eine kurze Stille.
    »Sie haben den Holocaust überlebt?« fragte ich meinen Sitznachbarn leise.
    »Ja«, antwortete er ebenso, »man hat mich versteckt.«
    Ich hätte gern mehr erfahren, aber in diesem Augenblick schaute der Sonnenhungrige zu uns herüber und rief:
    »Was soll überhaupt die verrückte Vorschrift mit der Kopfbedeckung? So ein idiotischer Einfall!«
    »Schimpfen Sie nicht schon wieder, hier ist eine Ruhestätte«, ließ sich die dünne Stimme neben mir jetzt ganz ruhig vernehmen. »Wenn Sie in die Kirche gehen, nehmen Sie doch Ihre Kopfbedeckung ab. Bei uns ist es eben umgekehrt.«
    Dem Mann in Hemdsärmeln auf der niedrigen Steinumrandung blieb der Mund offen stehen.
    »Na so was«, sagte er verblüfft, scheinbar nach angestrengter Überlegung. »Aber warum umgekehrt?«
    »Das hat seinen Grund, wenn Sie es wissen wollen.« Ich spitzte die Ohren. Der Alte holte offensichtlich zu einer ausgiebigen Erklärung aus. »Als unsere Vorväter durch die Wüste zogen, weil sie aus Ägypten vertrieben wurden, war es dort in der Sonnenglut fürchterlich heiß. Deshalb wurde verfügt, daß die Männer ihre Köpfe bedecken mußten, um einem Sonnenstich oder Hitzschlag vorzubeugen. Unsere Frauen müssen ja ohnehin ihr Haar verhüllen. Und im Gedenken daran, aus Respekt vor unseren Vätern in der Wüste darf kein Mann unsere Friedhöfe oder Synagogen barhäuptig betreten.«
    Nach dieser langen Rede sackte der alte Mann auf der Bank neben mir ein wenig zusammen. Der Hemdsärmelige kratzte seinen unbedeckten Kopf.
    »Warum müssen eure Frauen ihren Kopf verhüllen, wie die Araberinnen?«
    »Die verhüllen ihr ganzes Gesicht, unsere Frauen nur das Haar und auch nur die verheirateten.«
    »Nur die verheirateten? Warum wieder das?«
    »Damit sie keinem anderen Mann mehr gefallen. So will es das Gebot«, erläuterte der Alte geduldig.
    »Da sollten sie aber etwas ganz anderes verhüllen«, meinte der Sonnenanbeter schmunzelnd. »Aber woher soll man das alles wissen? – Und zu dem Marsch durch die Wüste haben euch die Deutschen getrieben?«
    »Damals noch nicht«, flüsterte es neben mir.
    »Verbrecher laufen auf der ganzen Welt herum, werden bald zahlreicher sein als die anständigen Leute«, sinnierte der Mann auf der Steinumrandung. »Wer war bei euch der Heiligste? Wir haben Jesus Christus.«
    »Der war auch Jude«, bemerkte der Alte. Sein Gegenüber fuhr hoch.
    »Langsam, langsam«, rief er erbost, »unser allerheiligster Christus?«
    »Gehen Sie manchmal über die Karlsbrücke?« mischte ich mich von neuem in das Gespräch ein, das mich immer mehr fesselte.
    »Klar. Was hat das damit zu tun?«
    »Bleiben Sie das nächste Mal bei der Statue des Gekreuzigten stehen und lesen Sie, was dort auf dem Sockel eingraviert ist: Jesus Nazarenus, Rex Judaeorum. Jesus von Nazareth, König der Juden.«
    »So? Das ist mir noch nie aufgefallen. Werde ich mir demnächst mal genau anschauen.« Der Mann schien ein wenig beunruhigt, aber nicht mehr feindselig zu sein.
    In diesem Augenblick ging das große Gittertor abermals auf. Zwei ältere Damen betraten den Friedhof, grüßten freundlich und verschwanden in der Hauptallee. Ichhielt nach meinen Journalisten Ausschau, aber die waren noch nicht zu sehen.
    »Na bitte«, ließ sich der Mann auf der Steinumrandung von neuem vernehmen. »Da kommen zwei Frauen, übrigens unverhüllt, wie ich bemerkt habe, aber auch schon alt. Also da kommen die beiden ihre Toten besuchen und bringen nicht einmal ein paar Blumen mit.« Es schien, als wollte er mit dieser Feststellung sein Verständnis und vielleicht sogar aufkommende Sympathie bekunden.
    »Das ist bei uns nicht üblich«, belehrte ihn der Alte.
    »Was ist bei euch nicht üblich? Wieder so eine Vorschrift? Bei euch ist alles streng reguliert? So etwas haben wir ja hierzulande reichlich genossen, das kommt bei uns nicht mehr an.«
    »Das ist keine Vorschrift«, der alte Mann schien zufrieden zu sein, uns wiederum belehren zu können, denn daß auch ich seinen Ausführungen aufmerksam lauschte, hatte er ohne Zweifel bereits bemerkt.
    »Damals, in der gräßlichen Wüstenhitze«, fuhr er mit seiner dünnen, leicht schwankenden Stimme fort, »starben unterwegs sehr viele Menschen, vor allem natürlich die älteren und schwächeren, aber auch Kinder. Alle mußten sofort beerdigt werden, um zu keiner Pestgefahr für die Lebenden zu werden. In der Wüste konnte man sie jedoch nur in dem

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