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Naerrisches Prag

Naerrisches Prag

Titel: Naerrisches Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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Werkstatt, der sich jedoch nur einer recht kurzen Lebensdauer auf dem grünlichen Marmorsockel erfreute, gegen den hatte ich gewisse Einwände geäußert. Was damals einen etwas erregten Telefonanruf des Künstlers bei mir zur Folge hatte.
    Unsere jetzige Unterhaltung war friedlich, beinahe freundschaftlich. Ich erfuhr, daß beim alljährlichen Wettbewerb des tschechischen Journalistensyndikats um die beste Reportage des Jahres, die mit einem Kisch-Preis ausgezeichnet wird, die Minibüste dem jeweiligen Preisgekrönten überreicht werden soll.
    »Auf dem Friedhof hat mich die Zigarette im Mundwinkel des Schriftstellers ein bißchen überrascht«, wagte ich nach einem stärkenden Schluck Rotwein zu bemerken.
    »Warum?« wunderte sich der Künstler. »Ich habe mir viele Fotos und Abbildungen angeschaut. Auf allen war der Kisch mit einer Zigarette zu sehen. War wohl typisch für ihn. Deshalb habe ich ihn auch so dargestellt.«
    »Gewiß. Auf dem Friedhof hat es mich allerdings, das muß ich zugeben, dennoch ein wenig überrascht«, wiederholte ich.
    »Kisch wäre mit mir zufrieden«, meinte der Bildhauer selbstbewußt, und wahrscheinlich hatte er recht.
    Ich nahm eines der winzigen Köpfchen auf winzigem Sockel in die Hand, drehte es hin und her, betrachtete es von links und rechts, dabei befiel mich ein ganz merkwürdiges Gefühl. War es nicht ein bißchen ungebührlich, den Meister der künstlerischen Reportage sehr verkleinert und mit einer sehr verkleinerten Zigarette im Mundwinkel einfach so in der Hand zu halten? Wo blieb der Respekt für das umfangreiche entdeckerische Werk des Meisters der Reportage?
    Da zirpte es, zum Glück nur für mich hörbar, in meinem Kopf. Wie lautete der Ausspruch Kischs, den ich von ihm oft gehört habe, wenn sich ihm jemand unterwürfig anzubiedern versuchte? »Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß.« Und hier? »So klein« in vielfacher Ausgabe, freilich ohne jegliches Zutun seinerseits.
    »Laß den Respekt beiseite«, knurrte es beinahe vernehmlich in meinem Kopf, »der hängt doch nicht vom Format ab. Sieh lieber zu, bald an die frische Luft zu kommen. Die mittelalterliche Atmosphäre in dem Gewölbe scheint dir nicht zu bekommen.«
    Ich befolgte den weisen Rat aus dem Jenseits, bedankte mich für die freundliche Aufnahme und verabschiedete mich.
    Als wir wieder auf der Straße standen, meinte mein journalistischer Kollege: »Ich habe erwartet, daß du ein Kisch-Büstchen geschenkt bekommst.«
    »Wieso?« lachte ich. »Ich bin doch kein preisgekrönter Pressemensch. Gehen wir jetzt irgendwo einen ordentlichen Kaffee trinken?«
    In der Meißner Straße (Míšenská) – so heißt das krummeGäßchen – gab es kein Lokal. Zu meiner Erleichterung auch keinen Laden mit Glas und Porzellan, was hier, im Hinblick auf den Namen der Gasse, eigentlich zu erwarten war. Aber meine Stadt hustet auf voraussehbare Erwartungen, ist mehr auf Überraschungen eingestellt.
    Auf dem Kleinseitner Ring, wo wir unseren Kaffee trinken wollten, fuhr eine Straßenbahn bimmelnd an uns vorbei. Von einer auffallenden, sehr bunten Reklametafel an ihrer Seitenwand blickte zu meiner Überraschung mit seinen großen dunklen Augen Franz Kafka in das Getriebe der Menschen. Als Propaganda für einen demnächst bevorstehenden Marathonlauf durch die Straßen von Prag! Eine schamlose Profanierung des Schriftstellers? Aber nein, er lebte doch in einer närrischen Stadt.
    Vielleicht weil ich in dieser Stadt heranwuchs und, wohin auch immer es mich im Laufe der vielen Jahre verschlagen hat, Prag stets in meinem Bewußtsein verankert war, ein fester Punkt, auf den ich mich verlassen konnte, bin ich wohl imstande, Neues, Andersartiges intensiv zu erleben, in mich einzuordnen, um es auch mitnehmen zu können, nach Hause, nach Prag.
    Am Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als der zweite Weltkrieg erst in vollem Anlauf war und die deutsche Wehrmacht sich zunächst in Westeuropa einschnitt, gab es an der Mittelmeerküste im Süden Frankreichs noch ein kleines Stück unbesetzten Territoriums, einen Notausgang aus dem geplagten, in Todesgefahr schwebenden und Todesgefahr verbreitenden Europa: den Hafen von Marseille.
    Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit das Glück – und es war auch ein Abenteuer –, diese Stadt nach meinem keineswegsfreiwilligen und damals auch keineswegs freien Aufenthalt vor gut sechzig Jahren noch einmal, nunmehr durchaus freiwillig und frei, besuchen zu können. Als Zeitzeuge

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