Naerrisches Prag
oder lieber ein kaltes Getränk haben möchte.
Ich blieb schweigend stehen. Vor dem modernen Neubau bewegte sich eine beträchtliche Menschenschlange langsam vorwärts. Die Anstehenden waren fast ausschließlich dunkler Hautfarbe. In diesem Amt werden Aufenthaltsbewilligungen und ähnliche Dokumente ausgestellt.
Mit einemmal beunruhigte mich das bedrückende Gefühl, daß ich an falscher Stelle stand. Ich gehörte docheher dorthin, unter die in der tropischen Temperatur erschöpften, wartenden, bangenden und hoffenden Menschen. So war es doch immer gewesen. Ich empfand es als absurd – wenngleich erleichternd –, hier höflich erwartet zu werden.
»Wollen wir gehen?« ermahnte man mich freundlich. »Der Aufzug ist leider außer Betrieb, wir müssen in die vierte Etage hochsteigen. Aber nehmen Sie sich Zeit, gehen Sie ganz langsam und vorsichtig.«
Als ich ganz langsam und vorsichtig oben ankam, klopfte mein Herz ein wenig unregelmäßig, nicht allein infolge der Klettertour.
Im Archiv in dem alten Gebäude durfte ich dann die Kartothek der in den Kriegsjahren im sogenannten Bompard festgehaltenen Frauen durchsehen, einem Etablissement übelsten Rufes, das zu einem Polizeiinternat umorganisiert war. Für jede von uns wird hier eine Karte aufbewahrt, mit einem Foto und amtlich verzeichneten Daten und Bemerkungen, die allerdings mit der Wirklichkeit nicht immer übereinstimmen. So konnte ich auf meiner Karte lesen, wiederholt das Konsulat der USA aufgesucht zu haben, was kein einziges Mal der Fall war. Ich stand damals mit dem Generalkonsulat der Vereinigten Staaten von Mexiko in Verbindung, befand mich auf dem Weg in dieses Land. Für die Polizei war anscheinend Amerika ein umfassender Begriff und der Unterschied zwischen Nordund Lateinamerika nicht weiter beachtenswert. Dagegen berührte es mich sympathisch, daß ich als Bürgerin der Tschechoslowakei registriert war, obwohl zu jenem Zeitpunkt das uns aufgezwungene Protektorat Böhmen und Mähren schon mehrere Jahre bestand. Immerhin, freute ich mich.
Im Bompard waren wir übrigens nur zwei Pragerinnen. Die Karte meiner Freundin Käthe fehlt in der Kartothek. Vielleicht weil sie nicht ausgereist, sondern in der französischen Résistance untergetaucht war. Die Denkweise der Polizeibeamten ist oft unergründlich. Aber wahrscheinlich stecken die amtlichen Angaben über meine gute Käthe in einer anderen Kartothek.
Von den Aufnahmen in den Eintragungen, in die ich Einblick nehmen durfte – für die Schauspielerin Steffie Spira gibt es sogar zwei Karten, eine besondere für ihren damals etwa siebenjährigen Sohn Thomas –, sahen mich durchwegs inzwischen verstorbene Frauen an. Wieder einmal war ich die letzte, übriggeblieben von einer größeren Gemeinschaft. Diesmal erfüllte mich dieser Umstand nicht so sehr mit Wehmut als vielmehr mit dem Gefühl einer gewissen Verpflichtung gegenüber meinen einstigen Weggefährtinnen. Wenn du noch da bist – also gut, solange ich noch da bin.
In jenen Tagen war ich wirklich und wahrhaftig in der Hafenstadt Marseille, die nicht nur mit dem sagenhaften Grafen Monte Christo, dem berühmten Gefangenen im Chatêau d’If, in die Literatur und in die Geschichte eingegangen ist, sondern in viel späteren Jahren auch noch als Notausgang aus dem vom Krieg bedrängten Europa. Als ich im alten Hafen, dem von Legenden umwobenen Vieux Port, stand und meinen Blick auf die imposante Anhöhe richtete, von der aus die Schutzpatronin der Seeleute in der Kirche Notre Dame de la Garde unangetastet von den vielfältigen stürmischen Ereignissen auf die Stadt zu ihren Füßen hinabschaut, meldete sich in mir ein durchaus privates Anliegen.
Mein Mann, der jugoslawisch-deutsche SchriftstellerTheodor Balk, ist im Jahr 1974 in Prag gestorben. In seinem in vieler Hinsicht aufschlußreichen und auch erfolgreichsten Buch »Das verlorene Manuskript« gibt es im Kapitel »Zwischen zwei Kontinenten« eine Stelle, an die ich jetzt in Marseille immer wieder denken mußte. Balk schildert dort die kleinen Geschenke, die von Matrosen, aber auch Soldaten, Fliegern und einfachen Menschen der heiligen Patronin hoch oben aus Dankbarkeit für die von ihr in Bewegung gesetzte Rettung gewidmet wurden und nun schon seit vielen Jahren in bunter Menge von der Kirchendecke herabbaumeln: winzige Schiffchen, Ordensbänder, Flugzeugminiaturen.
»Sollte ich je nach Marseille zurückkehren«, schrieb Balk von Mexiko aus in seinem Buch, »so will ich dir gern ein
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