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Naerrisches Prag

Naerrisches Prag

Titel: Naerrisches Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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für einen französischen Dokumentarfilm.
    Als ich nun in Marseille gefragt wurde, woran ich mich noch gut erinnern kann und welche Stellen ich gern aufsuchen möchte, überraschte ich die jungen Filmleute offensichtlich, als ich hervorstieß: »Unbedingt den Bahnhof.«
    »Den Bahnhof? Warum?«
    »Dort habe ich Glück erlebt.«
    »Dort haben Sie was ...?« Erstauntes Kopfschütteln, aber auch sofortige Zustimmung. Begleitet von drei jungen Leuten, ausgerüstet mit Kamera und Tongerät, brachte man mich wunschgemäß zu dem nicht gerade sehenswerten Bahnhofsgebäude. Dort wurde ich aufgefordert, mein einstiges Erlebnis in die Kamera zu erzählen. Ich mußte nicht lange in meinem Gedächtnis kramen.
    Nach einem halben Jahr in einem Pariser Gefängnis und schon über einem Jahr in Rieucros, einem Internierungslager für Ausländerinnen in Zentralfrankreich, erhielt ich am Anfang des Jahres 1941 ganz überraschend, wie so etwas in unberechenbaren Lagen manchmal passiert, einen Urlaubsschein für einen mehrtägigen – ich glaube, es waren fünf oder sieben Tage – Aufenthalt in Marseille, um meine Ausreise aus dem Land betreiben zu können. Marschall Pétains kollaborierendes Frankreich wollte Ausländer tunlichst schnell loswerden, um in Übersee mit solcher »Großzügigkeit« gegenüber Flüchtlingen einen günstigen Eindruck hervorzurufen.
    Ich kam damals mit einem Zug in Marseille an und stieg unruhig aus, weil ich schon bei der Einfahrt die Kontrollposten der Polizei vor dem Bahnhofsausgang bemerkthatte. Wird für sie mein nur mit einem jämmerlichen Stempel des Lagerkommandanten von Rieucros versehener Urlaubsschein ausreichend sein?
    Ich blickte mich um und schmuggelte mich unauffällig in eine größere Gruppe einheimischer Reisender ein, und mit ihnen gelang es: Ich passierte den Ausgang ohne jegliche Kontrolle, atmete auf und marschierte eiligst los.
    Vor dem Bahnhofsgebäude liegt ein kleiner Platz. Zögernd und vorsichtig überquerte ich ihn, blieb erst an seinem Ende an einer steinernen Brüstung stehen. Erst hier wagte ich mich umzuschauen, hob meinen Blick. Vor mir lag in strahlendem Sonnenlicht die Hafenstadt Marseille, und hinter ihr funkelte das uferlose Meer. Ich holte tief Atem. In diesem Augenblick fühlte ich mich nach beinahe zwei Jahren zum erstenmal wieder frei. Die offene Weite vor meinen Augen rief ein bislang unbekanntes Glücksgefühl in mir hervor. Es rollte in meinem Blut, kribbelte in den Fingerspitzen, erfüllte mich mit jedem Atemzug. Ich schaute in die verlockende, unbekannte Ferne, und sacht, gleichsam tröstend erstand das Bild einer anderen Stadt in mir, auf die ich nicht von einem Bahnhof, sondern von einer Burg hinabzuschauen pflegte, mein unerreichbares Prag. Jetzt stand ich weit weg von meiner Heimat, vor mir eine fremde Stadt am Meer, und ihre Offenheit verlieh mir das Bewußtsein der Freiheit, die ich einst als selbstverständlich genossen hatte und die ich, in diesem Augenblick gab es für mich keinen Zweifel, eines Tages auch wieder voll besitzen würde. Das war es, was mich in jenen Minuten glücklich machte.
    »Schön, das war sehr gut«, sagte der junge Kameramann leise, als ich verstummte. Ich hatte beinahe vergessen, daß gedreht wurde.
    Mit einemmal wurde mir in der Sonnenhitze ein wenig schwindlig. Ich bat um einen Schluck Wasser und mußte mich auf eine der in die Stadt hinabführenden Stufen hinsetzen. Das Wiedersehen mit diesem Platz und seiner flimmernden Aussicht warf mich beinahe um. Und dabei ahnte ich noch nicht, daß das erst ein Anfang war.
    Es ist schon sonderbar, wenn man einen Ort als nicht willkommener Gast erlebt hat – auch in Marseille war ich in der Kriegszeit zwar relativ lose, aber dennoch polizeilich interniert – und nach Jahren wiederkommt, diesmal als gern gesehener, ja sogar willkommener Besucher. Das empfand ich besonders scharf, als wir im Laufe der Filmarbeit u. a. das zentrale Polizeiarchiv aufsuchten. Diese Dienststelle befindet sich in einem älteren, vom Bombenregen in den vierziger Jahren anscheinend verschonten Gebäude, dem nunmehr ein moderner Neubau angeschlossen ist. Mit der Zuwanderung der Bürger aus den einstigen afrikanischen Kolonien Frankreichs hat sich die Agenda der Polizei in der Hafenstadt vervielfacht, benötigte zusätzliche Räumlichkeiten.
    Wir kamen an unserem Ziel mit einem Auto an, und als ich ausstieg, eröffnete man mir, daß ich im Archiv bereits erwartet werde, und fragte, ob ich in der Hitze einen Kaffee

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